Die folgenden Texte sind Andenken an die bisher seltsamste Zeit meines Lebens. Beide stammen aus dem Frühling 2020, den ersten habe ich am Tag nach dem Lockdown geschrieben, den zweiten im Mai. Es sind bloss ein paar wenige persönliche Impressionen, aber viele von euch werden vieles davon auch kennen.
Als der Lockdown absehbar wurde, ging ich Balkonblumen kaufen. Damit in den nächsten Wochen wenigstens noch etwas anderes blüht als das Virus. Und weil ich irgendwo las, dass jetzt niemand Blumen kaufe, obwohl die Läden vor Frühlingsbuntem platzen. Aber gut, alle Läden platzen immer, das ist hierzulande Gesetz, doch jetzt wird es von einem Virus ausser Kraft gesetzt.
Das Virus hebelt gerade den Kapitalismus aus und verzögert die Klimakatastrophe, vor Triest schwimmen wieder glückliche Delfine im Hafenbecken, das habe ich nicht nur gelesen, das habe ich in einem Video gesehen und noch hat niemand gesagt, dass es sich dabei um Fake News handle.
Stunden, bevor der Lockdown verkündet wurde, stand auch ich vor einem der vielen leeren Pastaregale. In einem Coop. Eine Frau, deren Einkaufskorb aussah, als müsse sie zwei, drei Kinder, die nicht mehr zur Schule dürfen, durch den Tag bringen, wischte verzweifelt die letzte Packung Billigstpasta aus dem Regal. Danach war Ende. Andere Leute blieben mit Tränen in den Augen im Gang vor der grossen Leere stehen. Ich auch.
(Anmerkung vom März 2025: Auch das WC-Papier-Regal war leer. Aber der Wirt einer benachbarten Beiz, die während des Lockdowns auf Delivery umschaltete, bot uns Zugang zu seinem WC-Papier-Lager an.)
Minuten vor dem Lockdown hatte ich schon wieder ein Brieflein von der Lufthansa-Swiss in meinen Mails. Sie informierten mich, dass sich mein Sitzplatz oder meine Abflugzeit für einen Flug nach Berlin, von dem ich mich eh schon telefonisch, aber offenbar erfolglos abgemeldet hatte, erneut verschoben habe, aber dass sie mir wirklich, wirklich für mein Vertrauen in so schwierigen Zeiten danken würden.
Das erfolglose Telefonat mit der Lufthansa-Swiss war so verlaufen: Ich hatte einer gehetzt klingenden Frau erklärt, dass ich den Flug nicht antreten würde, dass sie ja aber vielleicht eine Warteliste mit Menschen hätte, die nach Hause zu ihrer Familie wollten, und dass ich meinen Platz gerne verschenken würde. Sie lachte mich nur aus und sagte: «Niemand will jetzt mehr fliegen, niemand.»
Ich schrieb meinen Leuten in Berlin, dass ich sie leider nicht sehen könne und gute Gesundheit wünsche, und sofort taten sie alle, was sie seit Jahren nicht getan hatten: Sie riefen an. Ein Ex, mit dem ich die lockerste aller Bekanntschaften pflege, sagte aufgelöst: «Wahnsinnig schön, deine Stimme zu hören!» Eine Freundin erzählte mir zwei Stunden lang aus ihrem Leben, und es fanden sich da auch einige WC-Papier-Storys. Ich war sehr gerührt.
Dann war der Lockdown da. Und die Schatten, die ich seit Tagen stoisch zurückgedrängt hatte, krochen los. Die Verunsicherung. Die Bedrohung. Nachts träumte ich vom Ersticken. Seit heute Morgen hustet mein Liebesleben. Und im Haus vor dem unseren hustet sich ein Mann die Seele aus dem Leib. Coop hat auch heute keine Pasta.
Aber die Blumen auf meinem Balkon sind da, und selbst mein Liebesleben, dem an einem normalen Tag eher die Zunge abfaulen würde, als dies zuzugeben, findet sie schön. Wir haben Blumen, wir haben uns, wir haben Glück.
Als der Schock abebbte. Als ich beim Einkaufen nicht mehr immerzu dachte, dass die Luft vor Viren vibriere. Als ich mich mit monatelangem Home-Office abgefunden hatte – da staunte ich, wie schlicht das Leben sein kann. Es reduzierte sich auf Schlafen, Frühstück, Kaffee 1, Home-Office, Kaffee 2, Home-Office, Mittagessen, Kaffee 3, Home-Office, Apéro, Abendessen, Serien, Schlafen. Tag für Tag für Tag.
An vier Tagen die Woche machte ich Journalismus. An drei Tagen die Woche machte ich Literatur. Beides am gleichen Tisch und am gleichen Computer und mit der gleichen Aussicht auf ein Hochhaus, wo irgendwann Max Frisch und Pipilotti Rist gelebt hatten. Nicht zusammen natürlich. Zum Mittagessen liefen die Nachrichten im Radio. Zum Apéro lief «Echo der Zeit» im Radio. Beide berichteten immer nur über Corona. Tag für Tag für Tag.
Mein Liebesleben und ich entkamen den gleichförmigen Tagen, indem wir unsere Abendgestaltung ganz den Fiktionen überliessen. Wir schauten nichts Dokumentarisches, nur Erfundenes, und waren glücklich. Abgelenkt, unterhalten, inspiriert.
Ich bestellte mir im Internet ein neues Fitnessband. Ich hatte die Idee, dass mein altes innerhalb weniger Tage wegen neu erwachter Home-Fitness-Aktivitäten ausgeleiert sei. (Anmerkung vom März 2025: Es ist noch immer in Betrieb ...) Ich lud eine Fitness-App aufs Handy, in der eine grotesk geformte Lara-Croft-Ersatz-Frau Übungen vorturnte. Genau ein Mal turnte ich mit. Doch dann wollte die Ersatz-Frau Geld, und ich war abgeturnt und liess sie ziehen.
Auf der Suche nach der verlorenen Abwechslung nahm ich an der Zoom-Betriebsmeditation teil, die mein Arbeitgeber anbot. Eine junge Frau sagte, wie man sich entspannen solle, atemtechnisch und gedanklich. Ein Mal ging das gut, ich sah das Licht, ich fühlte den Fluss, das Strahlen und die heilige Stille, doch schon beim zweiten Mal eroberte meine Esoterik-Allergie ihr angestammtes Terrain zurück.
Es gab Dinge unter der Sonne, die konnte man machen oder nicht. Und das Schlichte war im Grunde nicht schlecht. Ich beschloss, dass alte Routinen besser wären als hilfloser Aktionismus. Ich simulierte jeden Morgen meinen Arbeitsweg, fuhr mit dem Rad in einem extra hohen Gang den Berg hoch bis zu einem Spital, wo sich allerdings nichts Nennenswertes abspielte. Ich suchte nach neuen Badezugängen zum See und fand sie. Ich begegnete Tieren, die sich nach einem Frühling ohne Menschen, ohne deren Fahrzeuge und Schiffsschrauben, mit erhöhtem Selbstbewusstsein auf das Stadtzentrum zubewegten.
In wenigen Tagen werden mein Liebesleben und ich wieder in unserer Lieblingsbeiz sitzen. Viele Tische sind jetzt ausgeräumt, zwischen den übrigen hängen weisse Stoffbahnen, es sieht sommerlich aus, nach Strand, nach Oase, ein wenig auch nach einem Hochdiskretions-Trakt, auf jeden Fall interessant und nicht unangenehm. Da werden wir sitzen, den Wein trinken, den wir schon seit vielen Jahren trinken, die Gerichte essen, die wir schon seit vielen Jahren essen.
Es kann gut sein, dass wir dort schon hundert oder zweihundert Mal gegessen und getrunken haben, aber in ein paar Tagen wird es sein wie nie und wie neu, wie der erste Restaurant-Besuch überhaupt, wie die Apotheose eines Restaurant-Besuchs. Es wird ein Erkennen, ein Fest und ein Heimkommen und der Anbruch einer neuen Normalität sein. Die Stadt wird sich langsam, ganz langsam wie ein Schmetterling aus der Starre lösen. Ein paar Wunden werden bleiben. Und Verwunderung. Der Rest ist Leben. Hoffentlich.
Hast auch du ein Foto eines leeren Regals: Dann ab in die Kommentare, wir wollen die grösste Leere-Regale-Sammlung der Welt!
Bei den beiden Beiträgen handelt es sich um zwei gekürzte Texte aus dem (inzwischen vergriffenen) Print-Magazin «Stoff für den Shutdown». Schweizer Kulturschaffende schrieben dafür 2020 unter der Leitung des Schriftstellers Benjamin von Wyl über die Pandemie.
Weniger Verkehr, weniger Lärm, weniger Luftverschmutzung, weniger Konsum, mehr Natur, man Konnte die Natur wieder hören, mehr Menschlichkeit, mehr Besonnenheit, mehr Bescheidenheit usw.