Seit dem Amoklauf von München und dem Selbstmordanschlag von Ansbach drängte sich ein Aspekt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit: Sowohl der Deutsch-Iraner David S., der in München neun Menschen tötete, als auch der Syrer Mohammad D., der in Ansbach eine Bombe zündete und dadurch 15 Menschen verletzte, waren früher in psychiatrischer Behandlung. Eine Frage, die sich nicht nur die Angehörigen der Opfer stellen, lautet darum: Weshalb blieb unerkannt, über welches Gewaltpotenzial diese Täter verfügen? Schliesslich wurden sie ja offenbar von professioneller Seite betreut.
In beiden Basel beschäftigen sich
mehrere Stellen damit, frühzeitig zu erkennen,
ob von einer Person eine Gefahr
ausgeht – für sich selbst oder für
Dritte. «Das gehört zu einem der wichtigsten
Aspekte in der Tätigkeit als
Amtsarzt», sagt Simon Fuchs. Der stellvertretende
Basler Kantonsarzt ist Leiter
der Abteilung Sozialmedizin. Diese
ist ermächtigt, bei akuter Selbst- oder
Fremdgefährdung eine fürsorgerische
Unterbringung (FU) in eine geeignete
Institution wie eine psychiatrische Klinik
zu verfügen. Dies für maximal
sechs Wochen. Danach liegt der Entscheid
für die Verlängerung der Massnahme
bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde
(KESB).
Auch wenn es bei der Intensität der
öffentlichen Debatte schwer vorstellbar
erscheint: Laut Fuchs haben die jüngsten
Attentate keine unmittelbaren Auswirkungen
auf seinen Berufsalltag. «Es
gehört zur täglichen Arbeit im Bereich
der ärztlich angeordneten FU, dass
auch Personen beurteilt und nötigenfalls
gegen ihren Willen in eine Institution
eingewiesen werden müssen, von
denen eine potenzielle Fremdgefährdung
ausgeht. Daher besteht diesbezüglich
stets eine sehr hohe Aufmerksamkeit.»
Und das Mittel der FU kommt öfter zur Anwendung, als man denkt: In Basel-Stadt werden pro Jahr im Durchschnitt rund 400 ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringungen verfügt. 2016 sind es bis jetzt 228, wie Fuchs gegenüber der BZ offenlegt. Dabei betont er, dass jeweils ungefähr vier Fünftel wegen Selbstgefährdung, also Suizidgefahr oder Verwahrlosung, nötig werden. Auch dieses Jahr hätte es zwar jeden Monat Fälle gegeben, bei denen Personen eingewiesen wurden, um Dritte zu schützen. Eine Häufung in jüngster Zeit, die auf eine erhöhte Sensibilisierung schliessen liesse, stellt Fuchs jedoch nicht fest. Unter Fremdgefährdung laufen meistens Drohungen, seltener auch Tätlichkeiten. «Mir ist kein Fall bekannt, in dem eine fürsorgerische Unterbringung wegen religiöser Radikalisierungs- oder Amokgefahr ausgesprochen wurde», sagt Fuchs in Bezug auf die Taten von Ansbach respektive München.
Dies deckt sich mit Erfahrungen im Kanton Baselland: «Fürsorgerische Unterbringungen aufgrund einer religiösen Radikalisierung sind uns nicht bekannt», sagt Philipp Eich, Chefarzt des Zentrums für Krisenintervention der Psychiatrie Baselland (PBL). In der PBL seien seit Jahren jeweils rund 17 Prozent aller Klinikeintritte FU. «Im Kontext von Radikalisierungsverläufen ist die fürsorgerische Unterbringung leider nur in den wenigsten Fällen ein taugliches Mittel», sagt auch Markus Lüchinger, Leiter der Baselbieter Stabsstelle Bedrohungsmanagement.
Dies, weil die FU nur bei sehr akuter Selbstoder Fremdgefährdung eingesetzt werden könne. Lüchinger setzt deshalb eher auf ein umfassendes Früherkennungs- und Frühinterventionsnetzwerk, das in Baselland in den letzten zwei Jahren noch ausgebaut worden sei. Polizei, Jugendanwaltschaft, Staatsanwaltschaft, Jugenddienst der Polizei, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, die Schulen, die Interventionsstelle Häusliche Gewalt und seine Stabsstelle würden «schneller und konsequenter» zusammenarbeiten.
Eine psychische Erkrankung kann eine Radikalisierung dennoch begünstigen. «Etwa bei einer paranoiden Schizophrenie ist der Betroffene generell anfälliger, durch Informationen jeglicher Art beeinflusst zu werden», sagt Regine Kaiser. Die Leiterin des Basler Amts für Beistandschaften und Erwachsenenschutz (Abes) warnt aber davor, Attentate und Amokläufe mit psychischen Erkrankungen zu erklären. «Dadurch blenden wir viele andere Eigenschaften und Motive der Täter aus und verharmlosen, dass längst nicht alle in diese Schublade passen.»
Undine Lang, Direktorin der Erwachsenenpsychiatrie
der Universitären Psychiatrischen
Kliniken Basel (UPK), betont,
dass «der Leidensweg eines psychisch
kranken Menschen immer individuell
ist und bis zu 50 Prozent der
Menschen heute psychische Erkrankungen
haben». Die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Täter auch eine psychiatrische
Erkrankung habe, sei also sehr
hoch. Aber, so Lang: «Das heisst nicht
automatisch, dass diese Erkrankung
auch zu der Tat geführt hat.»
Bei den UPK Basel achte man darauf, ob ihre Patienten auch Dritten gefährlich werden können. «In der Erwachsenenpsychiatrie wurde der Umgang mit aggressiven Patienten in den letzten Jahren allgemein professionalisiert und Schulungen für alle Mitarbeitenden angeboten», sagt UPK-Direktorin Lang. Zudem gebe es Orientierungshilfen, die den Behandlungsteams helfen würden, Aggressionen frühzeitig zu erkennen und diesen im Alltag vorzubeugen. In der ganzen Debatte, wie gefährlich Menschen mit einer psychischen Erkrankung werden können, möchte Lang etwas betonen: «Nur zirka zwei Prozent unserer psychiatrischen Patienten reagieren vereinzelt aggressiv – meist verbal und im Rahmen von Beziehungskonflikten. Wir reden hier sicher nicht von einem relevanten Risiko für die Bevölkerung.»
Etwas anders klingt es bei Regine Kaiser vom Abes: «Für uns sind gefährliche Klienten Alltag. Wir hatten auch schon Fälle von Fremdgefährdung, wo wir Schlimmeres verhindern konnten, weil wir frühzeitig einschritten.» Zuletzt hätte vor einem Monat ein Patient massive Drohungen ausgesprochen, worauf er in eine Klinik eingewiesen werden musste. Um solche Extremsituationen zu verhindern, ist laut Kaiser ein Punkt entscheidend: das Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und seinem Beistand. Allerdings weiss auch die Gewaltspezialistin, dass es die totale Sicherheit nicht gibt – und das sei auch gut so: «Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht setzt bewusst auf mehr Selbstbestimmung als früher. Die Betroffenen sollen betreut werden, aber dennoch frei leben können. Dass damit auch ein Risiko verbunden ist, ist uns bewusst.»
Ist das nicht Landesweit so? Geschieht im Aargau auch.