Die Bundesratswahl ist ein traditions- und strukturreiches Ereignis. Von Anfang bis Ende, von inoffiziellem bis offiziellem Teil dauert es zwar nur zwölf Stunden – dazwischen passieren aber viele durchgetaktete Dinge. Wir erklären die verschiedenen Schritte, die ab heute Abend auf der Traktandenliste der Parlamentarier stehen.
Die berühmte Nacht der langen Messer darf in keiner Bundesratswahlplanung fehlen: Gemeint ist damit der feuchtfröhliche parlamentarische Umtrunk in der Eingangshalle des Hotels Bellevue Palace in der Bundesstadt. Sie beginnt am Dienstag nach dem Abendessen und dauert so lange, bis die letzten Ständerätinnen, Nationalräte und Medienschaffenden aus der Lobby geworfen werden.
Was dabei besprochen wird? Meist wenig. Bundesratswahlen sind in der Schweiz häufig berechenbare Ereignisse: Man kennt die Namen der Kandidierenden, deren Chancen und überlässt das genaue Wahlergebnis den Vorlieben im Parlament. In der Geschichte der Schweiz gab es lediglich drei Bundesratswahlen, die aufgrund der Gespräche am Abend davor einen anderen Lauf nahmen. Berühmt ist heute noch die Wahl aus dem Jahr 2007, an der Eveline Widmer-Schlumpf anstelle von Christoph Blocher gewählt wurde.
Als «erste Nacht der langen Messer» überhaupt gilt der Vorabend der Bundesratswahl 1983, an dem die Wahl des Sozialdemokraten Otto Stich anstelle von Lilian Uchtenhagen «orchestriert» wurde.
Nationalrätinnen und Ständeräte schlafen ohnehin wenig während der dreiwöchigen Sessionen. Besonders kurz wird es bei manchen aber in der Nacht auf morgen: Einige Fraktionen werden ihre Parlamentsmitglieder schon zu frühen Sitzungen ins Bundeshaus bestellen, um letzte Strategien und Wahlempfehlungen zu diskutieren.
Die Sitzungen sind geheim und finden hinter geschlossenen Türen statt. Was dort gesagt wird, wird nur ansatzweise öffentlich kommuniziert – etwa dann, wenn die Fraktionschefs bekannt geben, welche Person man zur Wahl empfiehlt.
In dieser Zeit trudelt auch die Öffentlichkeit – vertreten durch Bürgerinnen und Bürger auf der Publikumstribüne und durch Medienschaffende – im Parlamentsgebäude ein. Neben den über 100 hauptberuflichen Bundeshausjournalistinnen werden auch rund 150 zusätzliche Medienschaffende aus allen Landesteilen zum Grossereignis zugelassen.
In den Gängen seitlich des Nationalratssaals (der sogenannten Wandelhalle) sieht es am Mittwoch entsprechend chaotisch aus: Es stehen unzählige Kameras, Lichtinstallationen, Moderationstische herum. Vieles wird dabei strikt reglementiert, damit es nicht zu einem Chaos kommt. Den ungeübten Bundeshausbesuchern wird sogar mitgeteilt, wie sie sich zu kleiden haben: Man solle sich der «Würde des Hauses» entsprechend anziehen.
Der offizielle Teil beginnt um 8 Uhr mit der Eröffnung der Sitzung der Bundesversammlung. Für jene, die im Staatskunde-Unterricht geschlafen haben, sei hier nochmals erklärt: Das Schweizer Parlament hat zwei sogenannte «Kammern» – den National- und Ständerat.
Sie diskutieren normalerweise getrennt. Einige Geschäfte, darunter die Bundesratswahl, finden in einer gemeinsamen Sitzung im Nationalratssaal statt. Die 200 Nationalratsmitglieder sitzen an ihren üblichen Plätzen. Die 46 Ständerätinnen und Ständeräte haben ihre Bänke am Rand des Saals.
Geleitet wird die Sitzung vom Nationalratspräsidenten Martin Candinas (Mitte). Er wird um 8 Uhr die Sitzung mit der Glocke eröffnen und zwei sehr formelle Punkte feststellen müssen:
In dieser Zeit haben diejenigen Parlamentarierinnen, die erst jetzt den Weg ins Bundeshaus gefunden haben, sich auf der Taggeldliste eintragen können. Eine vergessene Unterschrift kann bis zu 735 Franken weniger Spesen bedeuten!
Dieser erste Teil dauert wenige Minuten. Danach erklärt Nationalratspräsident Candinas, in welcher Reihenfolge die beiden Wahlen stattfinden – und zwar in der Reihenfolge des Dienstalters der vorherigen Bundesratsmitglieder. Sprich: Zuerst wird die Nachfolge von Ueli Maurer (2009–2022), danach jene von Simonetta Sommaruga (2010–2022) gewählt.
Darauf folgt eine kurze Abschiedszeremonie: Philippe Schwab, Generalsekretär der Bundesversammlung, darf die beiden Rücktrittsschreiben vorlesen, dazwischen dürfen die Zurücktretenden selbst eine Abschiedsrede halten. Pflichtprogramm hier: «stehende Ovation» sowie je ein Blumenstrauss.
Der Nationalratspräsident Martin Candinas beendet diese Abschiedszeremonie mit dem Übergang zur eigentlichen Wahl – zeitgleich verlassen die Bundesratsmitglieder den Nationalratssaal.
Es folgen die Nominationen: Candinas erwähnt (ebenfalls aus sehr, sehr, sehr formellen Gründen), dass einzelne Personen ihre Bewerbung eingereicht haben und ihre Dossiers beim Parlamentssekretär eingesehen werden können (was niemand tut).
Den Fraktionspräsidentinnen und -präsidenten, die es wünschen, wird das Wort gegeben. Erwartet wird, dass in erster Linie die Vertreter der SP und SVP ans Mikrofon treten: Sie werden nochmals zu Protokoll geben, welche zwei Frauen bzw. zwei Männer zur Wahl empfohlen werden. Und vor allem, dass ihre Fraktionen sich zur «Konkordanz» bekennen.
Gut eine Stunde später (oder vielleicht ein bisschen vorher) beginnt die erste Wahl mit dem ersten Wahlgang: Jedes Parlamentsmitglied erhält an seinem oder ihrem Platz einen Stimmzettel – wer verschlafen hat oder sonst einen Grund hat, nicht dabei sein zu können, darf nicht wählen. Diese kleine, aber wichtige Regel sorgt nicht nur für Ordnung, sondern auch dafür, dass sich der Nationalratssaal besonders voll präsentiert.
Der erste Wahlgang ist offen – das heisst: Auf dem Zettel darf der Name irgendeiner wahlberechtigten Person stehen. Ab dem zweiten Wahlgang scheiden jene Personen aus, die weniger als zehn Stimmen erhalten haben. Ab dem dritten Wahlgang wird jeweils der Name gesperrt, der die geringste Stimmenanzahl geholt hat – ausgeschlossen sind zudem neue Namen.
Das verhindert zwar nicht, dass eine Bundesratswahl mehrere Stunden andauert (rein rechnerisch sind sogar zwanzig Wahlgänge möglich – bei ewiger Stimmengleichheit zweier Kandidierenden sind sogar noch üblere Szenarien denkbar).
Bei realistischeren Konstellationen führt die Regel aber dazu, dass chancenlose Bundesratskandidatinnen aus der Wahl früh rausfliegen. So geschehen 2015, als Viola Amherd im dritten Wahlgang zur Nachfolgerin von Eveline Widmer-Schlumpf gesperrt wurde.
Die Stimmzettel werden von den Weibelinnen und Weibeln eingesammelt und danach ins Bundesratszimmer gebracht, wo die Stimmenzählerinnen und -zähler auf ihre Arbeit warten. Sie sind übrigens selbst Parlamentsmitglieder und sitzen im National- oder Ständerat.
Beim Zählen muss zunächst auf die Farbe geachtet werden: Die Wahlzettel haben in jedem Wahlgang eine andere (und vorab geheime) Farbe. So soll verhindert werden, dass ein Parlamentarier selbstgedruckte Wahlzettel mit ins Bundeshaus nimmt.
Beim Auszählen herrscht grösste Konzentration: Die Stimmenzählenden aus dem Nationalrat kümmern sich um je 25 Wahlzettel, jene aus dem Ständerat sind für je 23 Stimmzettel verantwortlich. Besonders schön zu schreiben gehört übrigens zur Pflicht – gemäss Gesetz darf nämlich die Mehrheit des Wahlbüros entscheiden, wenn Unklarheit darüber herrscht, wie ein Wahlzettel gelesen werden soll.
Steht das Ergebnis fest, so werden die Zahlen in eine Excel-Liste eingetragen (ob mit Cloud-Anbindung oder nicht, ist unklar). Die Chefin der Zählenden – es handelt sich um SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher – notiert das finale Ergebnis auf einem kleinen Zettel und übergibt diesen dem Nationalratspräsidenten.
Mit diesem kleinen Zettel gilt übrigens das Wahlergebnis als definitiv: Er muss zwar noch dem Nationalratspräsidenten übergeben werden. Am Resultat kann aber nichts mehr gerüttelt werden: Neuauszählungen oder gar Anfechtungen einer Wahl sind nicht möglich.
Ein querulatorischer Stimmenzähler könnte seinen Protest nur durch den Gang an die Öffentlichkeit vorbringen und er müsste das schnell tun, weil die Wahlzettel noch am selben Tag vernichtet werden. Zudem müsste er gute Argumente vorbringen, um einen Mehrheitsentscheid von links bis rechts kippen zu können.
Ein äusserst unrealistisches Szenario also. Realistischer hingegen ist, dass der Nationalratspräsident das Ergebnis vorliest und dabei die Zahlen in einer bestimmten Reihenfolge zweisprachig vorliest:
Hat eine Person das absolute Mehr erreicht, so gilt sie als gewählt. Verpassen dies alle Kandidierenden, so kommt es – wie oben beschrieben – zu weiteren Wahlgängen.
Wurde jemand gewählt, so wird von der Person verlangt, dass sie ans Mikrofon tritt: Es folgt eine kurze Dankesrede, reich an pathetischen Formulierungen. Der wichtigste Satz befindet sich aber meist am Schluss: «Ich erkläre Annahme der Wahl.» Erst dann ist die Wahl definitiv besiegelt.
Die beiden neugewählten Bundesratsmitglieder müssen danach feierlich ein Gelübde ablegen, wonach sie die Verfassung und die Gesetze beachten und die Pflichten des Amtes gewissenhaft erfüllen werden. Personen, die an eine höhere Macht glauben, können auch alternativ einen Schwur abgeben.
Danach folgt so etwas wie ein Feiermarathon: Es gibt Apéros, die beiden Neugewählten werden zu den übrigen Bundesratsmitgliedern geführt, wo es einen ersten Fototermin im Salon de la Présidence gibt. Rund 45 Minuten danach ist der erste Medienauftritt angesetzt, wo ausgewählte Medien exakt je 150 Sekunden für Kurzinterviews erhalten.
Der durchgetaktete Vormittag endet damit noch nicht: Nach der «Medientour» folgt ein Foto vor den «Drei Eidgenossen» beim Bundeshauseingang, bevor die frisch gewählten Regierungsmitglieder eine (vergleichsweise) längere Pressekonferenz abhalten: Rund zwanzig Minuten sind dafür reserviert.
Gif's zu verwenden; geniale Idee.
Jetzt würde ich es schätzen, wenn vor dem guten Artikel ein BR gezeigt würde, der/die der in der Schweiz wohnenden Bevölkerung etwas Brauchbares hinterlassen hat. Sollte doch möglich sein, nicht wahr?