Wäre die Immunitätskommission eine Beiz, die SVP hätte dort Anspruch auf einen eigenen Stammtisch. In der Vergangenheit mussten prominente Gesichter wie Roger Köppel, Christian Miesch und Christoph Blocher schon empfindliche Niederlagen in diesem Gremium einstecken, weil sie in Konflikt mit dem Gesetz geraten waren. Die Strafverfolgungsbehörden konnten darauf Ermittlungen aufnehmen oder das Parlament griff gleich selbst disziplinarisch ein.
Mitte November vergangenen Jahres hatten gleich fünf SVP-Politiker anzutraben: Thomas Aeschi und Michael Graber wegen Handgreiflichkeiten gegenüber Bundespolizisten, Marco Chiesa und Peter Keller wegen umstrittenen Wahlkampagnen und Andreas Glarner wegen mutmasslich diskriminierender Tweets.
Für die vier Erstgenannten hat das Gastspiel keine Folgen: Ihre Immunität bleibe geschützt, entschieden die Kommissionen von National- und Ständerat. Noch offen ist der Fall von Andreas Glarner. Der Ständerat sieht jede Äusserung amtierender Parlamentarier auf sozialen Medien als Teil eines politischen Amts, die Schwesterkommission legte dies zuerst anders aus.
Noch vor dem definitiven Entscheid rutscht nun ein zweiter Fall Glarner auf die Traktandenliste der Immunitätshüter: Im Wahlkampf 2023 hat Glarner ein mit Künstlicher Intelligenz (KI) erstelltes Fake-Video von Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan geteilt, in welchem diese Werbung für den SVP-Mann machte. Arslan zeigte Glarner an – nun stellt die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten einen Antrag auf Aufhebung der Immunität, wie sie gegenüber dieser Zeitung bestätigt. Die Angelegenheit birgt juristischen Zündstoff, weil es um einen in diesem Umfeld noch ungetesteten Straftatbestand geht: Identitätsdiebstahl.
Seltenheitswert hat aber auch die Konstellation: Dass eine amtierende Politikerin einen Ratskollegen anzeigt, kommt in der Schweiz kaum vor. Vor diesem Hintergrund sorgt bereits die Datumsfindung für die Kommissionssitzung für Furore.
Das Schweizer Parlamentsgesetz sieht vor, dass es sowohl in der Immunitätskommission des Nationalrats als auch in der Rechtskommission des Ständerats eine Mehrheit braucht, um die Immunität eines Parlamentsmitglieds aufzuheben. Werden diese sich nicht einig, bleibt das fehlbare Mitglied sowieso geschützt.
In der Nationalratskommission ist die Macht der SVP aufgrund des Parteienproporz erdrückend: Vier von neun Mitgliedern gehören der SVP an, darunter auch der Präsident. Aus der Kommission ist zu hören, dass diese Mitglieder zuletzt sehr parteitreu stimmten, wenn ein Fraktionskollege belangt werden soll. «Ist ein Mitglied von Mitte, FDP, SP oder Grünen verhindert und kann sich nicht vertreten lassen, steht der Entscheid bereits fest: Der SVP-Kollege darf seine Immunität behalten», sagt ein Kommissionsmitglied. Bei einem Patt von vier zu vier hat der Präsident den Stichentscheid.
Vereinfacht wird dies durch den Umstand, dass die Immunitätskommission über keinen fixen Sitzungskalender verfügt, sondern nur auf aktuelle Gesuche hin einberufen wird. Eine Doodle-Umfrage, wie im aktuellen Fall, wird da schnell zum Politikum.
«Die Immunitätskommission befindet sich aktuell nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe», findet SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. «Jede Verkehrsübertretung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wird sofort gebüsst, während SVP-Nationalräte sich mit der Bundespolizei eine tätliche Auseinandersetzung liefern dürfen und es passiert nichts – mit Rückendeckung ihrer Kollegen in der Kommission.»
Das sei stossend und eine Gefahr für die Demokratie. «Es ist sehr problematisch, dass die SVP vier von neun Personen in der Kommission stellt und gleichzeitig mit Abstand am meisten Fälle aus dieser Partei kommen», sagt Wermuth.
Noch einen Schritt weiter geht Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone: «Allein schon aus rechtsstaatlichen Überlegungen sollte das aktuelle System angepasst werden» Theoretisch sei auch eine konstante Mehrheit einer Partei denkbar: «Deren Vertreter könnten dann jederzeit über dem Gesetz stehen.» Mazzone verlangt, dass die Immunitätskommission künftig nicht mehr im Proporzsystem verteilt wird: «Jede Partei soll einen ständigen Sitz erhalten. Dann wären solche Partei-Manöver nicht mehr möglich.»
Im Fall von Andreas Glarner will sich die Kommission am 2. Mai zur Verhandlung treffen, hat dem Vernehmen nach die Doodle-Umfrage ergeben. Noch vorher, nächsten Dienstag, steht Glarner derweil wieder vor Gericht. Wenn auch als Opfer: Dann streitet er sich in zweiter Instanz mit Medienunternehmer Hansi Voigt, ob Glarner als «Gaga-Rechtsextremist» betitelt werden darf. (bzbasel.ch)
Das ist naheliegend, da die legalen Möglichkeiten Fremdenhass zu schüren, politische Gegner einzuschüchtern, Realität und Wissenschaftlichkeit zu verleugnen bereits weitgehend ausgeschöpft sind.
Mit anderen Worten, Parlamentarier haben auf Social Media absolute Narrenfreiheit. Sie könnten gar Morddrohungen ausstossen oder illegale Pornographie posten, alles easy.