Noch immer diktiert das Virus unser Leben. Was ist Ihre Bilanz nach einem Jahr Corona?
Markus Gabriel: Mein Zwischenfazit ist, dass wir nicht gelernt haben, was es heisst, in einer Pandemie zu sein. Wir haben noch immer die Illusion, wir könnten das Virus aus der Welt schaffen und alles wird wieder gut. Es wird aber erst dann alles wieder gut, wenn wir es geschafft haben, mit dem Virus zu leben.
Sie glauben, die Pandemie wird uns noch lange beschäftigen?
Als sie begann, glaubten viele, sie werde im Mai wieder vorbei sein, dann im Sommer. Aber es kam die zweite Welle, und nun denken wir, dass im Herbst alles wieder gut sein wird. Doch die Pandemie wird nicht vorbei sein, auch nicht im Jahr 2022. Und wenn meine Annahme, dass es kein Enddatum der Coronapandemie gibt, stimmt, dann müssen wir in unserer Pandemiebekämpfung umdenken.
Vertrauen Sie nicht in die immunisierende Kraft der Impfung?
Ich zweifle daran, dass wir in zwei Jahren eine weltweite Durchimpfungsrate von 60 bis 80 Prozent haben werden – zumal derzeit die Impfstoffe bei unter 16-Jährigen gar nicht zugelassen sind. Ausserdem sind einige Vakzine bei Älteren weniger effektiv. Vor allem aber: Wir wissen nicht, ob das Virus am Impfstoff vorbeimutiert. Auf diesen Tanz der Mutationen, wie es ein befreundeter Molekularbiologe nannte, sollten wir uns einstellen. Natürlich hoffe ich das nicht, aber unsere Handlungen sollten an den schlimmsten Szenarien ausgerichtet sein. Wir sollten uns auf zehn Jahre einstellen.
Zehn Jahre Lockdown geht nicht.
Der Lockdown ist überhaupt keine sinnvolle Strategie, er ist eine Notfallreaktion eines in Schock versetzten Tiers. Ein Lockdown ist eine Ultima Ratio – wobei die Vernunft eigentlich längst abhandengekommen ist. Wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen, machen wir einfach alles zu. Den ersten Lockdown hielt ich für gerechtfertigt, weil wir vom Virus überrascht wurden. Nun sollten wir aber bessere Mittel haben. Schon wegen der Folgekosten, sowohl gesundheitlicher als auch wirtschaftlicher, ist ein Lockdown derzeit ein viel zu riskantes Spiel.
Sie schlagen vor, Restaurants, Geschäfte und Universitäten sofort wieder zu öffnen?
Absolut. Je länger der Lockdown geht, je weniger sind jüngere Menschen bereit, sich für die älteren einzuschränken. Meines Erachtens ist die Schweiz zu früh eingeknickt. Man hätte die Gastronomiebranche nicht schliessen müssen. Damit werden Infektionen in die Privathaushalte getrieben, wo sie weniger gut beobachtbar sind als in den Restaurants.
Ohne Massnahmen verbreitet sich das Virus aber noch viel schneller.
Es gibt viel bessere Massnahmen als einen undifferenzierten Lockdown. Die im Sommer eingeübten Hygienemassnahmen müssen konsequent umgesetzt werden. Wir müssen noch mehr testen. Das Virus noch besser erforschen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sofort umsetzen. Beispielsweise sollten wir in Studien herausfinden, was die ideale Temperatur und die ideale Luftfeuchtigkeit sind, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, und dann die Konditionen aller Innenräume daran anpassen. Das wäre viel effektiver, als einfach dazu anzuregen, möglichst viel zu lüften.
Nach Corona werde die Gesellschaft nicht mehr sein können wie zuvor, schreiben Sie in Ihrem Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten». Was macht Sie so sicher, dass eine Veränderung stattfinden wird?
Wir haben festgestellt, dass unsere globalen Produktions- und Lieferketten, zu denen auch Businessreisen nach Wuhan gehören, viel riskanter sind, als wir dachten. Das Virus hat unser Bewusstsein geschärft für die globalen Zusammenhänge. Dazu gehört die Ausbeutung vieler Arbeiter und der Raubbau an der Natur. Es wird immer schwerer, zu verdunkeln, dass die Produktions- und Lieferketten bei den Menschen, die wir ausbeuten, zu systemischem Leid führen.
Das Schweizer Stimmvolk hat eben die Konzern-Initiative abgelehnt, welche die Firmen zu mehr Respekt gegenüber Menschen und Umwelt verpflichten wollte.
Aber nur sehr knapp. Das nächste Mal wird eine solche Initiative angenommen. Auch in Deutschland stehen wir kurz davor, ähnliche Gesetze einzuführen. Denn moralisches Wirtschaften ist auch die ökonomische Zukunft. Sie werden reich, indem Sie das Richtige tun. Das ist eine wilde Vorhersage eines neuen Aufklärers, als den ich mich verstehe.
Bertolt Brechts Formel «Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral» stimmt also nicht. Mit der Moral kommt das Fressen.
Ja, das Fressen basiert auf der Moral. Menschen sind prosoziale Wesen und nicht auf Ausbeutung aus. Hier liegen die Geschäftsmodelle der Zukunft.
Sie fordern eine «Neue Aufklärung». Die Aufklärer wollten im 18. Jahrhundert universale Werte, die bis in alle Zukunft gelten, etablieren. Warum brauchen wir im 21. Jahrhundert eine neue Version davon?
Die «Neue Aufklärung» besteht darauf, dass wir nicht fertig sind mit der Entdeckung universaler Werte. Wir haben zwar ein Gerüst davon, das sich etwa in den Menschenrechten zeigt. Wir wissen aber nicht, wie sie anwendbar sind in sich historisch wandelnden Bedingungen. Immanuel Kant konnte nicht wissen, dass beispielsweise die Verwendung von künstlicher Intelligenz in sozialen Netzwerken sozial disruptiv wirkt. Kurz: Die zweite Aufklärung ist ein dynamisches Modell. Es gibt zwar universale Werte, die sozusagen ewig gelten, aber ihre Entdeckung braucht Zeit.
Sie knüpfen damit an Immanuel Kant an und richten sich gegen die Postmoderne, die dominante philosophische Strömung des 20. Jahrhunderts, die universale Wahrheiten bestreitet.
Ich halte die Postmoderne für fehlgeleitet. Sie sagt im Wesentlichen, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Dass eine Behauptung, etwas sei wahr, immer von einem Interesse ausgeht. Es wird also die Wahrheit mit der Sprecherrolle verwechselt. Friedrich Nietzsche war der Erste, der diesen Irrsinn in die Welt gesetzt hat. Danach haben die postmodernen Denker, besonders einflussreich in Frankreich und weltweit Michel Foucault, das Spiel des Werterelativismus weitergetrieben.
Das hatte auch sein Gutes. Sie haben gezeigt, dass es ein «Normal» nicht gibt und beispielsweise Homosexualität keine Abnormalität ist.
Ja, postmoderne Denker haben dafür gesorgt, dass benachteiligte Gruppen eine Stimme bekommen haben. Das ist natürlich gut. Doch die Argumente, die sie dafür ins Feld geführt haben, sind falsch. Wenn nur alles soziale Konstruktion ist, wie die postmodernen Denker behaupten, dann kann man mit derselben Begründung, mit der man die Praxis von Homosexuellen verteidigt, auch die Praxis von Homophoben gutheissen. Wenn man keine objektive Wahrheit akzeptiert, kann man auch nicht anerkennen, dass man niemanden negativ diskriminieren soll.
Ist Donald Trump als 45. US-Präsident mit seinen alternativen Fakten die Vollendung der Postmoderne?
Absolut. Manche Vertreter der Postmoderne würden das natürlich bestreiten, weil sie seine politischen Ansichten nicht teilen. Im Wesentlichen hat er auf brachiale Weise aber nur getan, was die postmodernen Denker mit ihrer Dekonstruktion der Wahrheit vorgelebt haben. Spätestens seit Donald Trump ist die Postmoderne in sich kollabiert und vertritt eine völlig unhaltbare Position.
Auf jede Bewegung folgt eine Gegenbewegung. Nun ist Trump weg und die Zeit reif für «Neuen Realismus», wie Sie es nennen?
So ist es. Der «Neue Realismus» setzt die Wirklichkeit und Wahrheit an die erste Stelle. Und versucht in einem gemeinsamen Bestreben herauszufinden, worin Wirklichkeit und Wahrheit bestehen. Auch der «Neue Realismus» vertritt also eine progressive Position, aber aus Gründen der wissenschaftlichen Einsicht in das Wesen des Menschen. Aus völlig anderen also, als man sie etwa bei Nietzsche oder Foucault finden würde.
Ihre Ethik basiert auf moralischen Tatsachen. Was ist das?
Eine moralische Tatsache ist ein Satz, der wahr ist und uns sagt, was wir tun sollen, lediglich insofern wir Menschen sind. Zum Beispiel: Du sollst keine Kinder quälen oder du sollst keine Rollstuhlfahrer die Treppe hinunterstossen.
Wie erkennen wir moralische Tatsachen?
Durch Nachdenken, Einsicht und durch das menschliche Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen. So sind wir zur sogenannten goldenen Regel gekommen: Man soll niemandem etwas antun, was man nicht will, dass es uns selber angetan wird. Wir sind aber noch nicht am Ziel, wir haben noch kein zusammenhängendes System der Ethik, das allgemein akzeptiert wäre. Es gibt verschiedene Ethiken, wie es auch verschiedene physikalische Theorien gibt.
Wenn es moralische Tatsachen gibt, wie erklären Sie sich, dass sich Philosophen selber nicht einig sind, wann Abtreibung moralisch gerechtfertigt ist?
Darauf lautet meine Antwort, dass wir uns in den wichtigen Punkten einig sind. Du sollst keine Kinder foltern, würde kaum jemand bestreiten. Oft kennen wir aber die nichtmoralischen Tatsachen nicht zur Genüge. Wann beispielsweise ist ein Mensch ein Mensch? Wenn das bereits mit der Befruchtung der Eizelle der Fall wäre, dann wären Abtreibungen ab dem ersten Tag verwerflich; wenn erst ab Geburt, wären Abtreibungen viel länger legitim. Wir haben uns auf zwölf Wochen geeinigt. Das Thema ist damit aber noch nicht zu Ende diskutiert. Zu viele naturwissenschaftliche und auch naturphilosophische Fragen sind offen.
In der Schweiz stimmen wir im Frühling über ein Verhüllungsverbot ab. Man soll im öffentlichen Raum keine Burka mehr tragen dürfen. Was halten Sie als Philosoph davon?
Das ist Unsinn. Wir sollen uns im Moment sogar zum Schutz der anderen verhüllen und Schutzmasken tragen. Es geht also. Damit ist bewiesen, dass das Verhüllungsverbot negativ eine bestimmte Religionsgemeinschaft diskriminiert, und das halte ich für nicht akzeptabel. Wenn es Kirchen geben darf, dann dürfen sich Menschen auch aus andersartigem Glauben verhüllen.
Ist es eine moralische Tatsache, dass Legos böse sind?
Ja, weil sie aus Plastik bestehen. Plastikspielzeuge sind nicht nachhaltig und schaden der Umwelt. So pädagogisch sinnvoll die Lego-Bausteine sein mögen, der Konzern sollte rasch auf Holz oder wiederverwertbare Materialien umsteigen.
Wenn ethische Tatsachen immer gelten, heisst das, dass der grosse Aufklärer Kant ein Rassist und Sexist war, da er Schwarzen und Frauen nicht dasselbe Vernunftvermögen zugesprochen hat?
Ja, das hat er nicht gesehen, hier müssten wir ihn aufklären. Und Schweizer, die vor 1971 den Frauen kein Wahlrecht zugesprochen haben, waren aufgeklärte Menschen und dennoch sexistisch. Zu jeder Zeit gibt es Systeme der Ideologie, Propaganda und Manipulation, die dazu führen, dass wir einige Menschen dehumanisieren und ihre Menschenrechte einschränken.
Das heisst auch, dass wir jetzt vermutlich moralische Fehler machen, die uns nicht bewusst sind, die aber in 100 oder 200 Jahren völlig klar als solche gesehen werden.
Das ist so. Und wir können uns fragen, welche es sind. Ich tippe auf die Zerstörung unseres Planeten durch Raubbau und Emissionen sowie das Verhalten gegenüber unseren Kindern. Ich würde sagen, wir behandeln unsere Kinder so schlecht, wie wir früher die weiblichen Mitglieder unserer Demokratie behandelt haben. Dass wir noch kein Kinderwahlrecht haben, ja nicht einmal ernsthaft darüber nachdenken, ist ein Anzeichen eines primitiven moralischen Verhaltens, das mich erschreckt.
In der Schweiz wird darüber diskutiert, das Stimmrechtsalter von 18 auf 16 zu verjüngen. Sie sagen aber, das reiche nicht. Brauchen wir das Kinderwahlrecht?
Unbedingt, sobald jemand sprechen kann und irgendetwas versteht, sollte er wählen können. Ich schlage vor: ab 5 Jahren. Und die, die noch nicht sprechen können, sollten durch ihre Eltern vertreten werden. Als bei uns Kommunalwahlen waren und ich unserer 5-jährigen Tochter erklärt habe, wofür welcher Kandidat steht, hat sie geweint, als sie erfahren hat, dass sie nicht mitmachen kann. Dabei geht es doch um ihre Zukunft. Sie hatte recht und wir Erwachsenen unrecht.
Oft sind gerade in der Schweiz die Vorlagen, über die wir abstimmen, so kompliziert, dass sie zum Teil Erwachsene nicht verstehen. Wie soll ein Kind entscheiden können, ob wir ein Rahmenabkommen mit der EU brauchen oder nicht?
Die Vernünftigkeit der Bürger kann kein Kriterium sein. Es gibt viele Erwachsene in Deutschland oder auch in der Schweiz, die das politische System nicht verstehen. Deshalb verbieten wir ihnen nicht, zu wählen. Dasselbe soll für Kinder gelten. Natürlich aber brauchen wir geeignete pädagogische Mittel, welche den Kindern auf ganz einfache Art und Weise erklären, welche Konsequenzen die Wahl einer Politikerin oder eines Politikers jeweils für ihr Leben hat. Das würde bedeuten, dass die Parteien ihre Programme auch auf Kinder abstimmen müssten, was der Politik guttun würde, weil sie weniger elitär wäre.
Wenn seine 5-jährige weint, weil sie nicht abstimmen darf, dann hat er ihr falsche Hoffnungen gemacht und ihr nicht erklärt, dass er als Vater ihr Fürsorger ist und ihre (nicht nur seine) Interessen wahrnimmt.
Bin sehr dafür, Kinder ernst zu nehmen und sie in Entscheidungen miteinzubeziehen. Wage dennoch sehr stark zu bezweifeln, dass sich das im von Herrn Gabriel vorgeschlagenen Masse zu unser aller Vorteil auswirken würde.