«Sind sie vorbestraft?», fragt der Richter am Bezirksgericht Zürich. Nein, sagt Roman S. 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, mit der Familie lebend, hat Philosophie studiert in Zürich und an der Sorbonne in Paris, besitzt ein Einfamilienhaus.
Er sitzt zum ersten Mal als Angeklagter vor Gericht, in einer abgetragenen, braunen Manchesterjacke, hinter ihm Familienmitglieder und andere Aktivisten der Bewegung Extinction Rebellion, auffallend viele ältere Personen.
Er war der 17. Angeklagte nach einer unbewilligten Demonstration vom 4. Oktober 2021 in Zürich mit rund 300 Teilnehmenden, der vor Gericht geladen wurde. Rund die Hälfte hat das Bezirksgericht Zürich bisher für schuldig befunden, bei der freigesprochenen Hälfte hat die Staatsanwaltschaft den Prozess ans Obergericht weitergezogen.
Diese Zeitung berichtete damals über die Proteste und zitierte Roman S. als Sprecher von Extinction Rebellion an diesem Tag. Darauf drohte sein Arbeitgeber ihm, er werde entlassen, wenn sein Name noch einmal in Zusammenhang mit dieser Organisation in der Zeitung erscheine. Roman S. ist hier deswegen ein Pseudonym.
Anwesend sind am Bezirksgericht Zürich nur der Richter und zwei Gerichtsschreiberinnen. Die Staatsanwaltschaft war nicht anwesend. Dennoch verteidigt Roman S. sich mit Unterstützung seines Anwalts über fast drei Stunden, ein wortgewandter Philosoph gegen die Justiz. Der Richter lässt ihn gewähren.
Die Staatsanwaltschaft hat in der Anklage geschrieben, die für alle Angeklagten identisch war, Roman S. habe mit seinem Handeln die Verkehrsteilnehmer zu einem Umweg gezwungen, sie hätten so Zeit verloren und er habe seinen Willen über jenen der Bevölkerung gestellt.
Roman S. aber findet, sein Handeln sei zwar «disruptiv» gewesen, aber er habe niemanden genötigt. «Wie soll die Staatsanwaltschaft den Willen der Bevölkerung kennen?», fragt S., gibt aber zu, dass er Personen behindert habe, als er weiter fragt: «Wenn Sie das schlimmer finden als das Recht auf einen friedlichen Protest, warum haben Sie die Verkehrsteilnehmer dann nicht gewarnt?» Wenn Bahnmitarbeiter streiken würden, würden die Zugsausfälle auch angekündigt und keiner der Streikenden verklagt. Extinction Rebellion hatte ihre Aktion der Polizei angekündigt, aber keine Bewilligung erhalten.
Roman S. sagt: «Es gibt viele Mittel, die Klimapolitik zu fördern und wir müssen alle beschreiten, um den Klimakollaps zu verhindern.» Er sei es müde, die Frage zu hören, was der Protest denn bringe. «Ziviler Ungehorsam ist ein erfolgversprechender Weg», findet der Gymilehrer, viele der heutigen Menschenrechte und Normen wie die Gleichbehandlung der Geschlechter und Rassen oder bessere Arbeitsrechte hätten auf der Strasse begonnen und seien erst durch die medienwirksame Aktion richtig wahrgenommen worden.
Roman S. schildert, wie ihm einst ein Polizist nach einer Klimakundgebung in Bern gesagt habe, er müsse Geduld haben, der Klimawandel sei ja erst seit wenigen Jahren bekannt. «Doch der Wissenschaft ist der Effekt des CO2 aufs Klima seit hundert Jahren bekannt und vor 43 Jahren, als ich erst zwei Jahre alt war, fand die erste Klimakonferenz statt. Dieser Polizist hat mir klargemacht, dass es Strassenproteste braucht.»
Er habe es zuerst anders versucht, fliege nicht, habe kein Auto, esse wenig Fleisch und trage Secondhandkleider. Als der Kanton ihm von der Totalsanierung seines alten Hauses abgeraten habe, weil diese sich auch nach fünfzig Jahren noch nicht lohne werde, habe er verstanden, dass auch Anreiz-Systeme dem Klima kaum helfen würden. «Und ich habe bei der Alpen-Initiative gesehen, wie die Politik versagt, wenn es um die Umsetzung von Umweltschutz geht. Diese Wege reichen einfach nicht aus. Deshalb habe ich an der Rebellion gegen das Aussterben teilgenommen.»
Er achte den Rechtsstaat, deshalb sitze er heute hier, sagt Roman S.. Ziviler Ungehorsam sei symbolisches Handeln und habe nichts mit Anarchismus zu tun. Roman S. zitiert den englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes: Selbst der habe gesagt, das Volk dürfe sich mit allen Mitteln wehren, wenn der Staat den Schutz des Volkes nicht mehr gewährleisten könne. «Diese Situation ist längst eingetreten», findet der Lehrer, denn je länger man warte, desto schwieriger werde es, den CO2-Absenkpfad einzuhalten. «Dann droht der Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems. Aber den Systemwechsel, den es dazu braucht, fürchten viele mehr, als den Klimakollaps.»
Der Anwalt redet ebenfalls lange. Der Richter hört geduldig zu. Ebenso geduldig warten die Anwesenden eine Stunde zuerst draussen im Regen, dann im Eingangsbereich des Gerichtes aufs Urteil.
Es lautet: Schuldig, weil Roman S. die Personen in den Autos mit der Strassenblockade an diesem Montag in Zürich genötigt habe, einen Umweg zu fahren. «Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verkehrsteilnehmer die Blockade bejubelt haben», erklärt der Richter. Und man könne mit seinen Grundrechten nicht die Rechte anderer tangieren. Für die Ausübung der Versammlungsfreiheit hätte es andere prominente Orte in Zürich gegeben. Ausserdem sei eine solche Aktion nur legitimiert, wenn man sich durch kein anderes Mittel Gehör verschaffen könne. «Die Klimabelange sind uns auch so bekannt, aber ein Notstand ist in juristischer Hinsicht nicht gegeben. Wir dürfen den Fall nicht nach Sympathie beurteilen.»
Manche der Anwesenden verwerfen die Hände, jemand verlässt sofort den Saal. Der Gymilehrer wird zu einer bedingten Geldstrafe auf zwei Jahre hinaus verurteilt. Er und sein Anwalt kündigen noch im Gerichtssaal einen Weiterzug, wenn nötig, bis zum Gerichtshof für Menschenrechte, an.
Angefragt auf das Urteil sagt Roman S.: «Es war zu befürchten, aber ich lasse mir die Hoffnung auf eine Freiheit-garantierende Rechtsstaatlichkeit nicht nehmen. Und nicht jeder muss auf die Strasse, wie ich. Aber alle, die nichts machen, machen sich der passiven Sterbehilfe der Menschheit schuldig.» (aargauerzeitung.ch/cpf)
Schuld am Klimawandel sind nicht die Klimajugend oder irgendwelche Demonstranten.