Der SCB hat die letzten Jahre dominiert: Meister 2016, 2017 und 2019. Qualifikationssieger 2017, 2018 und 2019. Wir verneigen uns.
Dass ausgerechnet Zug diese mächtige Dynastie gestürzt, die Qualifikation mit Rekordpunktzahl und den Titel 2021 gewonnen hat, dass die Zuger ausgerechnet den alten Meister auf dem Weg zum Titel im Viertelfinal gebodigt haben – jetzt, im Rückblick wirkt alles immer mehr wie ein Drehbuch eines Hollywood-Filmes.
Nie zuvor markierte der Übergang vom alten zum neuen Meister so sehr wie eine Zeitenwende. Ja, wer will, kann sagen: Zugs Aufstieg zu meisterlichen Ehren ist für den SCB ein Kulturschock. Nur haben es in Bern noch nicht alle erkannt.
Es ist einer jener Zufälle, die einem Chronisten die Augen öffnen. Denn nichts beeindruckt mehr als die Dinge zu sehen. Sehen ist etwas ganz anderes als nur Worte zu hören oder Beschreibungen, schöne Konzepte und teure Papiere zu lesen.
Der Zufall: am Vormittag um 09.30 Uhr der Termin im Berner Hockey-Tempel mit Mark Streit. Am Nachmittag um 14.00 Uhr dann die Audienz bei Hans-Peter Strebel, dem Präsidenten und Mehrheitsaktionär des neuen Meisters. Er empfängt im OYM zu Cham. Nicht in der Arena in Zug.
Die Fahrt von Bern nach Cham, 120 Kilometer durchs Mittelland dauert rund 90 Minuten. Es ist eine verstörende Zeitreise vom Gestern ins Morgen. Durch Zeiten und Welten. Wie vom Kolosseum in Rom ins Raumfahrtzentrum von Houston. Oder wie vom verrussten Führerstand einer Dampflokomotive ins sterile Cockpit eines Jumbo-Jets.
Wir treffen uns mit Mark Streit im leeren Restaurant des Berner Hockeytempels. Die Beiz ist noch zu und dient uns sozusagen als Sitzungszimmer. Maskenpflicht.
Mächtig und einschüchternd wie eine Trutzburg wirkt die Arena von aussen. So wie die wunderbare Altstadt noch den Reichtum und die Macht des alten Berns, so lässt der Hockey-Tempel nach wie vor die Wucht und Kraft der hier beheimateten Mannschaft erahnen. Klein und unbedeutend kommt sich der Chronist vor diesem gewaltigen Bauwerk immer wieder vor.
Drinnen in der Beiz sehen wir durch die Scheiben ins Innere der grössten Arena ausserhalb von Amerika. Nur von fahlem Tageslicht erhellt. Grau, fast bedrohlich wie ein Kolosseum des Hockeys wirkt die riesige betonierte Stehrampe.
Mark Streit ist durch und durch ein «Berner Giu» (Berner Junge), der einen schönen Teil seiner Jugendzeit hier verbracht hat. Einige der einst noch im Kindes- und Juniorenalter geknüpften Hockey-Freundschaften halten bis heute.
In Amerika ist er in der National Hockey League berühmt und reich geworden. Er hätte drüben bleiben können. Er hatte sogar Angebote, um fürs Fernsehen der New York Islanders zu arbeiten.
Aber er ist nach Hause, zu seinen Berner Wurzeln zurückgekehrt. Er engagiert sich für die SCB-Nachwuchsabteilung und zugleich ist er SCB-Mitbesitzer und -Verwaltungsrat. Die glaubwürdigste, charismatischste und neben Marc Lüthi wichtigste SCB-Persönlichkeit.
Als diese Saison die Dinge aus dem Ruder laufen, hilft er mit seiner immensen Erfahrung «an der Front» aus.
Als Mitglied des Coaching-Teams sitzt Mark Streit bei jedem Spiel oben auf der Tribüne, eilt in der Pause in die Kabine, um Tipps zu geben und im Training kümmert er sich ums Powerplay.
Er hat viel dazu beigetragen, dass die Saison mit den siegreichen Pre-Playoffs gegen Davos und dem ehrenvollen Ausscheiden im Viertelfinal gegen Zug doch noch versöhnlich geendet hat.
Mark Streit ist von freundlicher Art. Bescheiden und doch selbstsicher. Er erzählt, wie es diese Saison war und erläutert seine SCB-Visionen.
Man sei bei der Nachwuchsrekrutierung nicht mehr die Nummer 1 im Kanton. Investitionen seien auch in die Infrastruktur notwendig. Aber eben: aus den Worten sind in Bern noch keine Taten geworden.
Mark Streit ist zu klug, um als «klubpolitische Rampensau» angesichts der tiefsten sportlichen Krise seit dem Wiederaufstieg von 1986 intern zu rocken. Er spricht wie ein smarter Jungpolitiker (auch als Politiker könnte er es weit bringen) und lässt sich nicht zu polemischen Aussagen verführen. Aus der Sicht des Chronisten: schade.
Kann Mark Streit in Hockey-Bern etwas bewegen und dafür sorgen, dass aus Worten Taten werden? Ist er dazu in der Lage, kann der SCB wieder ein Spitzenteam werden. Ist er dazu nicht in der Lage, wird es ein langes Plangen auf den nächsten Titel.
Mark Streit ist sich möglicherweise nicht bewusst, welche Gestaltungskraft ihm im SCB gegeben wäre. Er könnte, wenn er denn wollte der nächste Marc Lüthi werden.
Zwischendurch macht Marc Lüthi einen Kontrollgang durch die leere Beiz. Wie ein Gastronomie-Phantom. Fast so, als könne er nicht abwarten, bis ihm sein tüchtiger Kommunikations-Direktor Christian Dick ins Büro täderlen kommt, wie dieser Medientermin zwischen Mark Streit und dem missliebigen Chronisten gelaufen ist.
Eine Autofahrt durchs Mittelland und ein Mittagessen später sind wir im Zugerland angekommen und rollen mit dem Automobil aus Cham hinaus. Linkerhand taucht das OYM auf.
OYM steht für «On Your Marks» («Auf die Plätze») und ist die Bezeichnung für die modernste Sportanlage der Welt und die Heimat des neuen Schweizer Meisters EV Zug. Hier trainieren die Zuger und nur noch zu den Spielen zügeln sie hinüber ins Stadion. Auch die Nationalmannschaft hat sich hier vor der WM den letzten Schliff verpasst.
Im OYM werden Sportlerinnen und Sportler (nicht nur Eishockeyspieler) nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen betreut. Sie werden vermessen, gewogen, durchgescheckt und dann wird nach neustem sportmedizinischem Wissen ein Trainings- und Ernährungsprogramm entwickelt, um das Potenzial zu optimieren. Eine ganzheitliche Betreuung übers ganze Jahr kostet, je nach genauen Bedürfnissen rund 30'000 bis 40'000 Franken. Der Chronist kann sich das nicht leisten. Aber gut täte es ihm.
Zugs Präsident Hanspeter-Strebel hat das OYM mit 100 Millionen aus seinem Privatvermögen finanziert. Auf die ein wenig polemische Frage, ob er denn Milliardär oder bloss Millionär sei, tritt er gar nicht ein. Er möge es nicht, wenn Menschen aufs Geld reduziert werden. Die Taten sollen zählen. Der Chronist beschliesst, ihn weiterhin Milliardär zu nennen.
Der Gegensatz vom OYM zur Berner Arena könnte grösser nicht sein. Auch ohne architektonische Ausbildung erahnt der Betrachter, dass hier die Besten geplant und das edelste Material verbaut haben. Eine Verschmelzung von Sichtbeton und Holz. Grosse Fenster. Lichtdurchflutete Räume. Alles grosszügig konzipiert.
Und was angenehm auffällt: Im OYM gibt es keine Hektik, keinerlei Form von Stress und keinen Lärm. Das OYM ist auch eine Oase.
Dieses Gebäude wird in 100 Jahren noch modern wirken. Und wir dürfen hier gestehen: Wir haben uns erlaubt, in der Tiefgarage unser Automobil auf einem der für Dr. Hans-Peter Strebel reservierten Plätze zu parken.
Wir werden durch die verschiedenen Räume geführt. Hier ist jegliche Form der Therapie möglich. Wir sehen Computer, Messgeräte und Apparate, auf die wir noch nie geschaut haben. Atemberaubend ist beispielsweise der riesige Kraftraum mit den verschiedenen Geräten und Maschinen. Alle auf spezielle Bedürfnisse abgestimmt. Das Beste vom Besten. Einige sind sogar Einzelanfertigungen.
So fast nebenbei kommen wir an der Eishalle vorbei. Mit einem Eisfeld, dessen Fläche in kürzester Zeit vom europäischen auf das NHL-Format umgebaut werden kann.
Rund 60 Spezialistinnen und Spezialisten auf den verschiedensten Gebieten arbeiten im OYM. Inklusive der Lehrkräfte, die hier eine auf den Sport zugeschnittene Ausbildung ermöglichen.
Hans-Peter Strebel empfängt im geräumigen, hellen Büro. Ein freundlicher älterer Herr mit einer leisen aber umso grösseren Autorität. Er strahlt die Gelassenheit und Ruhe eines Mannes aus, der mit sich und dem Leben im Reinen ist und weiss, was es bedeutet, Geduld zu haben. Erst nach 30 Jahren hat er die Zulassung jenes MS-Medikamentes bekommen, das seinen Reichtum begründet. Da war das sechsjährige präsidiale Warten auf den Meistertitel bloss eine Episode.
Hans-Peter Strebel ist den weiten Weg vom Fan der ersten Stunde (1967) zum Präsidenten und Mehrheitsaktionär gegangen. Genug Hockey-Romantik für einen Film. Und tatsächlich wollte unser staatstragendes Fernsehen dieses Leben verfilmen. Hans-Peter Strebel lehnte ab.
Das OYM ist sein Lebenswerk. Er sagt, es sei das, was er der Gesellschaft zurückgebe. Schnell wird klar, dass es nicht einfach um ein 100 Millionen Franken teures Bauwerk geht.
Hier ist mit viel Geld die faszinierende Vision einer ganzheitlichen sportlichen Betreuung umgesetzt worden. Aber es geht um viel mehr als Geld: Hier sehen wir das Resultat einer visionären Denkarbeit von vielen klugen Köpfen.
Wenn der Berner Hockeytempel imposant wie das Kolosseum wirkt, dann ist das hier ein Space Center des Sportes. Der Berner Hockeytempel steht für das Hockey, die Triumphe von gestern. Wie das Kolosseum für die Macht und den Ruhm des alten Rom. Das OYM aber ist die Zukunft.
Hans-Peter Strebel sagt, er investiere kein Geld in die erste Mannschaft. Und als Captain und Kultspieler Raphael Diaz einen Vierjahresvertrag wollte und keinen bekam, da hat er sich nicht eingemischt. Und so wechselt Raphael Diaz eben zu Gottéron.
Kann es wirklich sein, dass der Präsident das Meisterteam nicht alimentiert und das Hockey-Unternehmen EV Zug ohne präsidiale Subventionen auskommt? Ja, es kann sein. Sage und schreibe sechs Business-Clubs unterstützen den Hockey-Club. Kenner sagen, es gebe kaum ein Unternehmen im Zugerland, das nicht in einem dieser Business-Vereinigungen mitmache. Da spiele es keine Rolle, dass der Präsident in keinem dieser sechs Business-Clubs Einsitz genommen habe.
Die Frage ist: Verschafft das OYM den Zugern einen Wettbewerbsvorteil? Ja, ganz ohne Zweifel. Das OYM ist ein wichtiges Teilchen im Meister-Puzzle.
Spieler sagen, sie seien in der letzten Viertelstunde des letzten Finalspiels gegen Servette so frisch gewesen, dass sie noch stundenlang hätten weiterspielen können. Tatsächlich haben sie in den letzten zwölf Minuten aus einem 1:1 ein 5:1 gemacht.
Früher gab es die berühmte «YB-Viertelstunde». Weil YB einst Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in der letzten Viertelstunde ein Spiel noch gedreht hat. Vielleicht gibt es im Hockey bald die «OYM-Viertelstunde».
Das OYM ist nun seit einem Jahr Zugs Basis. Meistertitel garantiert das OYM nicht. Aber diese ganzheitliche Betreuung der Spieler, diese Investitionen in die Nachwuchsausbildung, dieses immense sportmedizinische Wissen sichern dem EV Zug auf Jahre hinaus eine stabile Spitzenposition.
Nur in einem Bereich kann der neue Meister mit dem alten Meister nicht mithalten. Beim Büropersonal. Der SCB leistet sich einen Obersportchef und einen Untersportchef.
Der EV Zug nur Sportchef Reto Kläy.
Mal abgesehen von der letzten, genialen Aussage. Dank dieser durfte ich im Grossraumbüro laut lachen und mich vor meinen Arbeitskollegen erklären. :D