Davos kann nicht Penalty. Definitiv. Keine polemische Behauptung. Zum Saisonauftakt verliert der HCD dreimal hintereinander in der Penalty-Entscheidung. 2:3 in Genf, 3:4 gegen Lausanne und 3:4 in Ambri. Von 15 Penaltys können die Davoser gerade mal zwei durch Leon Bristedt verwerten.
Alles Üben hilft nicht viel. Zwei der nächsten drei Penalty-Dramen gehen erneut verloren: beim 2:3 in Rapperswil-Jona und 4:5 in Zürich. Nur in Lausanne holen die Davoser im Duell Stürmer gegen Goalie den Zusatzpunkt (5:4). Andres Ambühl ist im September 39 geworden. Er mag ja viel Erfahrung haben. Aber Penaltys? Er hat im Verlauf dieser Saison bei fünf Versuchen viermal den Puck nicht ins Netz gebracht. Penalty-Entscheidungen sind nichts mehr für den grossen, alten Mann des Welteishockeys.
Das ist statistisch erhärtete, unumstössliche Wahrheit. Gospel.
Und doch ist alles ganz anders. Der HCD muss in Bern zum 7. Mal in dieser Saison in die Penalty-Entscheidung. Von 33 Penaltys haben die Davoser bisher erst 6 verwertet. Was einer Quote von rund 18 Prozent entspricht.
Dann geht alles ganz, ganz schnell. Nacheinander treffen Deniss Rasmussen, Andres Ambühl und Leon Bristedt. Eiskalt. Elegant. Die Angelegenheit ist nach drei Davoser Versuchen entschieden. Verwertungsquote exakt 100 Prozent. Am coolsten überlistet Andres Ambühl den Goalie. Seinen eleganten Anlauf bremst er fast bis zum Stillstand ab und setzt den Puck ins Netz von Philip Wüthrich als sei das die einfachste Sache der Welt.
Es ist der zweite HCD-Penalty und da Chris DiDomenico auch einmal trifft, ist es der alle entscheidende statistische Siegespenalty. Andres Ambühl ist im September 39 geworden. Er hat eben viel Erfahrung. Penalty-Entscheidungen sind auch eine Frage der Erfahrung und deshalb – wie wir in Bern gesehen haben – eine Spezialität des grossen, alten Mann des Welteishockeys.
Das ist statistisch erhärtete, unumstössliche Wahrheit. Gospel.
Davos und seine Penalty-Dramen sind einerseits ein weiteres Beispiel für die Unberechenbarkeit eines Spiels in ritterähnlicher Bekleidung in eisenbeschlagenen Schuhen auf spiegelglatter Unterlage. Aber auch für den Entwicklungsprozess eines Coaches. Christian Wohlwend ist vom Zauberlehrling und Feuerkopf zum legitimen Erben Arno Del Curtos gereift. Er hatte Anfang Saison ganz cool auf die drei Penalty-Niederlagen reagiert und er bleibt auch jetzt gelassen: «Vielleicht hat uns ja geholfen, dass wir uns inzwischen an Penaltyentscheidungen gewöhnt haben …». Kein anderes Team musste diese Saison schon so oft in die finale Entscheidung Stürmer gegen Goalie.
Drei Penaltys, drei Treffer. Christian Wohlwend ist froh, dass es in Bern so gekommen ist. Er freut sich. Und bleibt doch demütig. Nun sei die Mannschaft endlich wieder praktisch komplett. Mit Verletzungspech müsse man immer wieder rechnen. Der Ausfall einiger Schlüsselspieler habe einige Punkte gekostet.
Im Verlaufe des Small Talks über die bisherige Saison benützt der HCD-Trainer mehrmals das Wort Demut. Der Ausdruck kommt aus dem althochdeutschen Wort «diomuoti» («dienstwillig», also eigentlich «Gesinnung eines Dienenden»). Das passt. Jeder Coach betont die Wichtigkeit der Mannschaft und sagt, wie er stolz auf sein Team sei. Das gehört zum rhetorischen ABC. Christian Wohlwend redet nicht nur so. Er denkt und lebt diese Einstellung in seiner 4. Saison mit Leib und Seele. Er ahnt: Der Trainerjob gerade in Davos oben ist immer auch so etwas wie der Vorsitz einer zerbrechlichen Selbstverwaltung. Abhängig davon, dass viele Dinge gleichzeitig richtig laufen. Abhängig auch von der Tagesform einzelner. Er muss spüren, wann es Zeit ist zu poltern und wann, den Alphatieren zu flattieren.
Ein wenig ist Christian Wohlwend auch Bandengeneral. Das gehört dazu. Aber ein demütiger Bandengeneral. Er sagt, er habe inzwischen gelernt, sein Temperament zu zügeln. Er dürfe bei Interviews einfach nicht mehr so ungebremst geradeheraus sagen, was er denke. «Auch die Kommunikation mit den Schiedsrichtern ist jetzt eine andere.» Er legt sich verbal nicht mehr mit den Unparteiischen an. Wohlwissend, dass Blitz und Donner mit den von Amtes wegen sowieso Unparteiischen bloss Hagelwetter bei der Regelauslegung – also Strafen fürs eigene Team – provozieren.
Wer zu einem HCD-Spiel geht, löst mit dem Ticket Spektakelgarantie. Arno Del Curto hat ab 1996 diese ganz besondere, im Welteishockey wohl einmalige spielerische DNA in jahrelanger Schleif-, Trainings- und Überzeugungsarbeit erschaffen. Sie ist das Resultat einer Kontinuität, die es vorher noch nie gegeben hat und vielleicht nie mehr geben wird: Eine biblische Amtszeit von 22 Jahren. Arno Del Curto coachte den HCD vom Herbst 1996 bis zum 27. November 2018.
Christian Wohlwend führt dieses Erbe weiter. Wenn nicht noch Jörg Jenatsch zurückkehrt und das Bistum Chur übernimmt, wird der auslaufende Vertrag des HCD-Cheftrainers bald verlängert. Von den Spielern, die im letzten Meisterteam von 2015 eine Rolle gespielt haben, sind nur noch Andres Ambühl (39), Enzo Corvi (29) und Marc Wieser (35) dabei. Captain Andres Ambühl dürfte heute für das Innenleben der Mannschaft so wichtig sein wie einst Reto von Arx. In der ganzen Liga gibt es nur einen Schweizer Stürmer (Berns Simon Moser, sechs Jahre jünger), der noch mehr Eiszeit pro Spiel schultert. Spieler kommen und gehen, der HCD und seine Kultur bleiben bestehen.
Die Partie in Bern ist eine weitere HCD-Galavorstellung. Schon fast eine Zirkusnummer, mit dem Schlussfeuerwerk in der Penalty-Entscheidung. Yellow and Blue on Ice. Die Davoser setzen ihren Stil konstant und konsequent um. Powerhockey vom ersten Puckeinwurf bis zum Schluss. Im letzten Drittel wird der SCB gnadenlos mit 13:6 Torschüssen dominiert und in der zweitletzten Minute gelingt der Ausgleich zum 2:2. Zuvor sind die ZSC Lions in ihrem eigenen Tempel im Schlussdrittel mit 17:6 Schüssen überrollt worden und in den letzten zehn Minuten ist aus einem 0:3 ein 3:3 geworden.
Leistungsschwankungen im Laufe einer Saison, einer Partie, ja eines Drittels sind ein Wesensmerkmal des Hockeys. Bei keinem anderen Team der Liga ist das Spiel so konstant wie beim HCD. Die Davoser laufen und laufen und laufen. Sie halten ihr Tempo bis zum Schluss durch. In 16 der bisherigen 24 Partien haben sie das Schlussdrittel dominiert. Oft unerbittlich. Der Gegner hat nie Ruhe.
Müsste dann der HCD nicht Tabellenführer und himmelhoher Titelfavorit sein? Nein. Tempo, Rhythmus und Intensität mögen konstant sein wie bei einer Hockeymaschine. Aber die Chancenauswertung ist es bei Weitem nicht. Nur eine Schussstatistik führen die Davoser an: am meisten Schüsse neben das Tor. Mehr als zwölf pro Partie.
Wie es sich für einen HCD-Trainer gehört, ist Christian Wohlwend nie zufrieden. Auch Arno Del Curto war nie zufrieden. Nicht einmal nach einem Titelgewinn. Das gehört zur DNA, zur Leistungskultur der Davoser. Die Chancenauswertung bereitet dem HCD-Coach Sorgen. Genügend Chancen. Bei Weitem. So ziemlich in jedem Spiel. Aber eben nicht genügend Tore. Offensiv ist der HCD «nur» die Nummer 4 der Liga. Ein ausgeglichenes Torverhältnis nach 24 Partien (72:72) verhöhnt eigentlich die unermüdlichen offensiven Anstrengungen.
Wenn die Tore einfach nicht fallen wollen, sprechen die Nordamerikaner vom Ketchup-Prinzip. Alles schütteln und rütteln hilft nichts. Trotz verschiedenen und bestgemeinten Anstrengungen und Versuchen passiert erst einmal gar nichts. Aber auf einmal flutscht alles aus der Flasche auf den Teller. Christian Wohlwend gefällt dieser Vergleich: «Vielleicht trifft ja das bei uns zu.» Auch die Partie am Sonntag gegen die Lakers ist wieder ein mühseliges Schütteln der offensiven Ketchup-Flasche. Am Ende kommt wenigstens ein 2:1 heraus. Bei 33 Abschlussversuchen.
Noch treffender ist ein anderer Vergleich: Der HCD als Hockey-Glücksrad. Diese Hockeymaschine dreht und dreht und dreht. Doch sie stoppt – so wie es in der Natur eines Glücksrades liegt – eben nicht immer bei einer Glückszahl. Nicht jede Anstrengung wird mit einem Sieg belohnt. Der HCD hat bloss drei der letzten neun Partien gewonnen und steht in der Tabelle bloss auf dem 7. Platz. Zehn Punkte hinter dem zweiten, aber eben auch nur neun vor dem zweitletzten Rang.
Eishockey ist eben immer ein wenig auch ein Glücksspiel. Wichtig ist nur, dass das Glücksrad unablässig dreht und dreht. So wie der HCD läuft und läuft und läuft. Dann verlieren Siege und Niederlage etwas von ihrer Wichtigkeit. Dann bekommen die Spiele so oder so Kultcharakter. Wie beim HCD. Eigentlich das höchste Lob, das es gibt.
P.S. Der HCD hat seine drei Verstärkungsspieler für den Spengler Cup befunden: Die Stürmer Marc Michaelis und Aleksi Saarela von den SCL Tigers und Andrew Rowe von den Rapperswil-Jona Lakers.