Zahlen zeigen die Dimensionen. Finnland hat 66'687 Spielende, Schweden 61'547, die USA 551'006, Kanada 513'674 und wir lediglich 29'360. Aber wir sind inzwischen dazu in der Lage, Titanen wie Finnland und Schweden, aber auch die USA und Kanada auf Augenhöhe herauszufordern. Keine andere Hockey-Nation hat in den letzten zehn Jahren so viel aus ihrem Potenzial gemacht. Wie ist das möglich?
Die Karrieren von Enzo Corvi und Sven Senteler – beide 30 Jahre alt – erklären uns das Erfolgsgeheimnis. Es geht um kurze Wege, familiäre Strukturen und darum, dass wir kaum einen Talent übersehen, zu unseren Talenten mehr Sorge tragen und sie in einem guten Ausbildungssystem besser fördern.
Talente nicht übersehen: Enzo Corvi spielt bei Chur nur in der zweithöchsten Juniorenkategorie. Immerhin kommt er mit 20 auch in der ersten Mannschaft zum Zuge. Aber die spielt nur in der vierthöchsten Spielklasse (2. Liga).
Er denkt nicht im Traum an eine Profikarriere und ist erst einmal mit seiner Berufslehre beschäftigt. Aber in seinem Juniorenteam steht Yanik Del Curto im Tor. Der Sohn des berühmten HCD-Trainers Arno Del Curto. Er erzählt seinem Vater von einem grossen Talent, das offensichtlich übersehen worden ist.
Also macht sich Papa Del Curto auf den Weg nach Chur. «Er hat bei einem Training zugeschaut und mich gleich zum Probetraining nach Davos eingeladen» erinnert sich Enzo Corvi. «Ich war noch viel zu wenig kräftig und kam mir bei diesem Probetraining in Davos etwas verloren vor. Man hat aber auf mich Rücksicht genomnmen …» Doch sein Talent ist offensichtlich. Arno Del Curto sorgt dafür, dass er gleich einen Probevertrag bekommt.
Enzo Corvi kommt nach Davos um zu bleiben. Von einer Saison auf die nächste schafft er den immensen Sprung aus der zweithöchsten Juniorenklasse in die NLA. «Anfänglich hatte ich wenig Eiszeit. Meist in der vierten Linie. Aber ich konnte enorm viel lernen.» Immerhin kommt er in 31 Partien zum Zuge. Es ist die Saison 2012/13. Die Schweizer stürmen bei der WM 2013 bis in den Final. Fünf Jahre später ist Enzo Corvi im Frühjahr 2018 eine prägende Figur im nächsten Silberteam.
Es sind die familiären Strukturen unseres Hockeys, die kurzen Wege in einem kleinen Land, die dafür sorgen, dass ein Talent entdeckt wird und auf dem schnellsten Weg nach oben kommt. Enzo Corvi muss seine gewohnte Umgebung nicht verlassen, um Spitzenhockey zu spielen. So wie es in den meisten anderen Ländern erforderlich ist. Sein Talent wird in einem vertrauen Umfeld behutsam gefördert. In den grossen Hockeynationen gehen solche Talente oft im rücksichtslosen Konkurrenzkampf verloren.
Enzo Corvi Vertrag läuft 2018 aus. Bei der WM 2018 dirigiert er als Center eine Linie mit den beiden NHL-Flügeln Nino Niederreiter und Kevin Fiala. Auch auf höchstem Niveau hat sein Spiel einen Hauch von Magie.
Nun interessieren sich nicht nur Schweizer Teams für den Churer. Auch einige NHL-Organisationen melden sich. Konkrete Verhandlungen mit einem NHL-Team habe es nicht gegeben. «Aber mit Bern und vor allem mit Zug hatte ich intensive Gespräche.» Er bleibt in Davos. «Ich fühle mich hier rundum wohl. Es gibt keinen Grund zu einem Wechsel. Warum hätte ich also wechseln sollen.» Er hat seinen Vertrag in Davos inzwischen bis 2026 verlängert.
Auch in anderen Hockeynationen werden Talente übersehen – und es spielt kaum eine Rolle. Weil es so viele talentierte Spieler gibt. Aber wir können es uns nicht leisten, dass Talente verloren gehen. Enzo Corvi ist auch in Riga ein Schlüsselspieler im vielleicht besten WM-Team der Geschichte.
Sven Senteler gehört nicht zu jenen, die von den Hockeygöttern mit Talent gesalbt worden sind. Er ist ein anderer Spielertyp als Enzo Corvi. Natürlich hat auch er Talent. Sonst gibt es keine Karriere. Er ist flink. Tempofestigkeit gehört zu den Grundelementen des Spiels wie das Lesen und Schreiben für die Tätigkeit eines Chronisten.
Im kalten Hockey-Tempel zu Wetzikon schaut er ab und zu seinem Vater beim Plauschhockey zu. «Irgendeinmal wollte ich es auch probieren und so bin ich zum Hockey gekommen.» Er landet 2006 mit 14 Jahren relativ spät in der Nachwuchsorganisation der ZSC Lions. «Ich war gut genug, um gleich auf der höchsten Juniorenstufe meiner Altersklasse zu spielen. Aber ich war nie der Beste in einem Team.» Das habe ihn auf dem weiteren Weg nach oben geprägt.
Von allem Anfang an ist Sven Senteler ein wertvoller Teamspieler. Aber nie Topskorer, nie in der ersten Angriffsreihe. Nie ein «Kinderstar», dem eine grosse Karriere vorausgesagt wird. Das dürfte der Grund sein, warum er nie für eine Juniorennationalmannschaft aufgeboten wird.
Sven Senteler fliegt sozusagen unter allen Radarschirmen durch. Drei Jahre lang pendelt er zwischen den GCK Lions und den ZSC Lions hin und her. Auch in der Saison 2014/15, als sich Enzo Corvi beim HCD in der obersten Liga durchgesetzt und etabliert hat.
Im Laufe der Saison 2015/16 meldet sich Zugs Sportchef Reto Kläy. Die Zuger haben zahlreiche verletzungsbedingte Ausfälle. Die ZSC Lions erlauben einen leihweisen Transfer. Sven Senteler wechselt nach Zug - und bleibt.
Wie zuvor bei den Junioren, bei den GCK Lions und sporadisch beim ZSC stürmt er in Zug meistens im dritten und vierten Sturm. Aber nun ist er Stammspieler und erstaunlich produktiv: Er hat inzwischen in Zug fünf Saisons hintereinander inkl. Playoffs mehr als 20 Punkte gebucht.
Sven Senteler ist der perfekte Ergänzungsspieler. Fleissig, furchtlos, diszipliniert, taktisch intelligent und fähig, jede Rolle zu übernehmen, die ihm der Trainer zuteilt: Am Flügel, in der Mitte, im Boxplay, aushilfsweise auch im Powerplay.
Ein Spieler, der seine Fähigkeiten richtig einschätzt und so ein Maximum aus seinem Talent macht. Er sagt, er versuche die einfachen Dinge richtig zu tun. So wie Enzo Corvi in Davos, so fühlt sich auch Sven Senteler in Zug rundum wohl und hat den Vertrag bis 2026 prolongiert.
Letzte Saison ist der EVZ-Stürmer endlich zum ersten Mal für zwei Operettenländerspielen aufgeboten worden. Vom eine WM-Teilnahme scheint er da noch so weit weg wie von einem NHL-Vertrag. Aber nun ist er mit 30 doch zum ersten Mal im WM-Team.
In Riga spielt Sven Senteler auf dem höchstmöglichen Niveau die Rolle des perfekten Ergänzungsspielers. In den ersten drei Partien kommt er zu durchschnittlich 12:49 Minuten Eiszeit und bucht einen Assist. Weil vor dem vierten Spiel NHL-Star Nico Hischier kommt, muss er gegen die Slowakei auf die Tribüne. Kein Problem. Er akzeptiert jede Rolle. Ein berühmter Spieleragent hat einmal über ihn gesagt: «Es wäre so vieles einfacher, wenn jeder wie Sven Senteler wäre …»
Stars wie Nico Hischier machen aus einem guten ein grosses Team. Aber Spieler wie Sven Senteler sind weit unterschätzte Puzzleteilchen jeder grossen Mannschaft.
Wahrscheinlich wäre er in den anderen grossen Hockeyland übersehen worden und hätte keine Profikarriere gemacht. Sein Werdegang zeigt, wie wichtig die Swiss League als Ausbildungsliga und Unterbau zur National League ist. Ohne das Farmteam der ZSC Lions gäbe es diese Karriere mit ziemlicher Sicherheit nicht. Die Swiss League als zweithöchste Profiliga gehört zu den Erfolgsgeheimnissen unseres Hockeys.
Dass Sven Senteler den Traum einer Profikarriere in Zug verwirklichen kann, ist eine Ironie der Hockeygeschichte. Die Zuger haben aus Kostengründen ihr Farmteam im Frühjahr 2022 aufgelöst.
Slowakei: 11447 lizenzierte Spieler
Um mal ein Beispiel zu nennen.
Zum besten WM Team der Schweiz: Man stelle sich vor Roman Josi und Timo Meier wären ebenfalls dabei. Trotzdem wäre der Titel eine Sensation. Ich schätze die Schweden, Finnen und Kanadier trotzdem stärker ein.