Zuerst läuft alles nach Plan. Alles wie erwartet. Servette hat Biel am Samstag 7:1 demontiert. Nun führen die Genfer auch am Dienstag in Biel schon nach 13 Minuten 1:0.
Eigentlich logisch. Niemand kann sich so schnell von einem 1:7 erholen. Wenn es jetzt Servette nicht zum Sieg und zum Titel reicht, wann dann? Noch nie waren die Genfer der ersten Meisterschaft ihrer Geschichte (seit 1905) näher als am Dienstagabend nach dem ersten Drittel in Biel. Alles im Griff. Auch statistisch mit einer Dominanz von 10:7 Torschüssen.
Aber nach einem nahezu perfekten Startdrittel mit der frühen Führung reicht es nicht zum Sieg und zur Meisterfeier. Warum? Hat Trainer Jan Cadieux einen Fehler gemacht? Gibt es einen Sündenbock? Fehlte die Kraft? Die Konzentration? Die Disziplin? Nein. Servettes Trainer hat alles richtig gemacht, einen Sündenbock oder einen Grund zur Polemik gibt es nicht. Die Genfer haben verloren, weil sich Biels Leidenschaft, Konzentration, Disziplin, Präzision und Tempo im Mitteldrittel in ein explosives Gemisch, in eine Art «Hockey-Ekstase» verwandelt.
Die Wende vom 0:1 zum 2:1 bis kurz nach «Halbzeit» (33. Minute) ist zwingend. Keine Mannschaft der Liga hätte die Bieler in dieser Phase aufhalten, ihr rauschhaftes Tempospiel neutralisieren können. Sie brausten einfach über ihren Gegner hinweg. Sie dominierten dieses robuste Servette wie noch nie in diesem Final. Mit 10:4 Torschüssen. Am Ende lautet die Torschussstatistik 30:26 für Biel. Zum ersten Mal in diesem Final hatte Robert Mayer mehr zu tun als Biels Torhüter.
Servette hatte nicht nachgelassen. Nicht zu passiv oder zu nachlässig gespielt. Torhüter Robert Mayer war ein Titan. Er und nicht Henrik Tömmernes hätte zum besten Spieler gewählt werden müssen. Biel war im zweiten Drittel einfach zu gut. Vielleicht so gut wie noch nie in dieser Saison.
Aber würde Biel im Schlussabschnitt gut genug sein, um den Vorsprung über die Zeit zu bringen oder gar auszubauen, um ein 7. Spiel zu erzwingen? Das schier Unfassbare geschieht: Biel setzt seinen Sturmlauf fort. Chance um Chance. Bis schliesslich Leitwolf und Captain Gaëtan Haas in der 55. Minute die Entscheidung erzwingt und zum 3:1 trifft. Henrik Tömmernes gelingt zwar der Anschlusstreffer (55:12 Minuten) zum 3:2. Aber Harri Säteri lässt den Ausgleich nicht mehr zu und am Ende fällt das 4:2 ins leere Tor.
Was für eine Kiste von Gaëtan Haas zum 3:1!! 💥⚒️#PlayoffsUndSuschtNüt | @ehcbiel pic.twitter.com/IOWmFWsNmj
— MySports (@MySports_CH) April 25, 2023
Biel hat diese Saison seinem Publikum schon viele magische, ja rauschhafte Momente beschert. Diese 6. Finalpartie bringt noch einmal eine Steigerung. Weil es gelingt, im bisher wichtigsten Spiel die maximale Leistung abzurufen.
Am Donnerstag fällt nun die Entscheidung im 7. Spiel in Genf. Servette ist der Favorit des Verstandes. Ausgeglichener, erfahrener, wuchtiger, kräftiger. Auf allen Positionen vorzüglich besetzt. Exzellent gecoacht. Wer am letzten Samstag 7:1 gewonnen hat, müsste doch auch am nächsten Donnerstag dazu fähig sein, den gleichen Gegner noch einmal zu besiegen. Im wichtigsten Spiel der Klubgeschichte, die 1905 begonnen hat. Ein Sieg und der erste Titelgewinn wären hockeytechnisch logisch. Wahrlich, die Frage ist berechtigt: Wenn es jetzt nicht reicht, wann dann?
Aber Biel ist der Favorit der Herzen. Emotionaler, leidenschaftlicher, beweglicher, schneller und zäher als je zuvor seit dem Wiederaufstieg von 2008. Auf einer Mission für ihren an Krebs erkrankten Trainer. Kann Spieler, die nach einem 1:7 am Samstag wieder aufgestanden sind, die eine krachende Niederlage einfach abgeschüttelt haben wie ein Hund das Wasser aus dem Fell und drei Tage später den gleichen Gegner zwingend, überzeugend mit 4:2 gebodigt haben, noch etwas einschüchtern und erschüttern? Nein. Die Bieler wissen: Alles ist möglich. Yes we can.
Der Titan Servette ist verwundbar. Bisher hat das 7. Finalspiel (und damit den Titel) viermal der Gast und nur dreimal der Gastgeber gewonnen. Heimnachteil. Nicht Heimvorteil.
Zum ersten Mal in der Geschichte treten zwei Teams zu einem 7. Finalspiel an, die in der Qualifikation nach 52 Runden genau gleich viele Punkte hatten. Ausgeglichener geht nicht. Bleibt die Frage, wer die grössere Siegeschance hat: Servette, Favorit des Verstandes, oder Biel, der Favorit der Herzen?
Die fachlich beste Antwort bekommen wir, indem wir eine Münze werfen. Die Hockeygötter werden würfeln.