Seit mehr als hundert Jahren – exakt seit 1905 – versucht Servette meisterliche Höhen zu erklimmen. Nun sind die Genfer ganz, ganz nahe an den Gipfel herangekommen. Sie haben Biel regelrecht demontiert (7:1) und eine Premiere provoziert: Harri Säteri wird nach zwei Dritteln durch Joren van Pottelberghe ersetzt. Drei Tore in 143 Sekunden im Mitteldrittel sind für den Olympiasieger und Weltmeister zu viel. Zum ersten Mal in der Geschichte muss ein ausländischer Torhüter im Laufe eines Finals-Spiels ohne Not einem Schweizer Platz machen. Der vierte und entscheidende Sieg am Dienstag in Biel ist nur noch Formsache.
Oder doch nicht? Selbst ein 7:1 will wenig heissen. 1997 verliert Zug Spiel fünf im Halbfinal auf eigenem Eis gegen Ambri 1:7. Zwei Tage später gewinnt Zug in Ambri 5:0 und dann Spiel sieben 7:2. Allzu leicht geht vergessen, dass am Dienstag alles wieder bei 0:0 beginnt. Ein bisschen Hilfe der Hockeygötter, die sowieso in diesem Final würfeln – und Biel gewinnt. Dann kommt es am Donnerstag in Genf zum 7. Spiel.
Nein, der Chronist nimmt das Risiko einer blamablen Prognose so kurz vor Saisonschluss nicht mehr auf sich. Um Servette im Falle eines Falles als Meister zu rühmen, ist nächste Woche dann noch reichlich Zeit. Wir erleben einen Final mit vielen Geschichten, Dramen, Wendungen, Irrungen und Wirrungen. Dazu passt: Für Servette gibt es eine Warnung aus der Geschichte.
Eine dramatische Begebenheit mit Helden aus Genf, die uns zeigt, dass Scheitern im letzten Moment möglich ist. Die Warnung kommt vom Mount Everest. Dem höchsten Berg der Welt. Das passt zum Gipfelsturm der Genfer. Die ganz grosse, die ultimative Herausforderung der Bergsteiger ist zu Beginn der 1950er Jahre die Erstbesteigung des Mount Everest. Des höchsten Berges der Welt. Der erste Versuch der Briten ist 1921 gescheitert. Sechs weitere Anläufe scheitern. Mehrere tapfere Männer verlieren ihr Leben und einige werden erst 1999 gefunden.
1952 versuchen es die Genfer. Edouard Wyss-Dunant leitet die Expedition mit René Dittert, Gabriel Chevalley, Jean-Jacques Asper, René Aubert, Léon Flory, Ernest Hofstetter, Raymond Lambert und André Roch. Fast ein halbes Hockey-Team. Alles Genfer. Drei Wochen verbringen sie zur Akklimatisierung auf 6900 Metern Höhe. Schliesslich unternehmen der legendäre Sherpa Tenzing (dem später mit Edmund Hillary die Erstbesteigung gelingen wird) und Raymond Lambert den Gipfelsturm. Es wird ein Drama sondergleichen.
Sie kommen dem ewigen Ruhm, als erste den höchsten Berg zu bezwingen, so nahe wie niemand zuvor. Sie müssen vier Nächte in eisiger Höhe bei schrecklicher Kälte auf über 8000 Metern verbringen. Dann starten sie am 28. Mai 1952 zum finalen Gipfelsturm. Sie sind dem Weltruhm so nahe wie jetzt Servette nach dem dritten Sieg dem Meistertitel. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen. Die beiden Männer machen sich gegen 6 Uhr auf das letzte Teilstück. Bei halbwegs normalem Wetter fast ein Spaziergang. Aber sie werden von einem wütenden Sturm mit eisigen Winden gepackt. Alle 20 Meter lösen sie sich beim Spuren ab. Raymond Lambert wird darüber schreiben:
Die zwei Männer brauchen fünf Stunden für knapp 200 Höhenmeter. Aber sie geben nicht auf. Vor sich sehen sie den Kamm noch etwa 200 Meter hoch zum Gipfel aller Gipfel ansteigen. «Der Gipfel war so nahe», wird Raymond Lambert erzählen. «Nur noch dieses eine letzte Felsband, das wir gerade überkletterten, nur noch dieser eine Schneegrat. Doch nein, es war unmöglich.» Auf 8600 Metern Höhe – so hoch ist noch nie ein Mensch gestiegen – müssen sie aufgeben. Bis hinauf zum Gipfel fehlen nur noch 248 Meter. Sie sind dem ewigen Ruhm näher als Servette jetzt dem ersten Titel. Und scheitern doch.
Als erste Menschen erreichen Sherpa Tenzing und Edmund Hillary ein gutes Jahr später am 29. Mai 1953 den Gipfel. Weltruhm. Die Genfer sind vergessen. Auch Servette hat bei der Expedition auf den Gipfel unseres Hockeys unter der Leitung von Jan Cadieux alles richtig gemacht, wie damals die tapferen Bergsteiger. Aber sie sind noch nicht oben auf dem Gipfel angekommen. Deshalb gilt für das Spiel am Dienstag in Biel die Warnung: Remember 1952!
Servettes formidable Ausgangslage hat viele Väter. Einer verdient ganz besondere Erwähnung. Marc-Antoine Pouliot. Der Mann, der vielleicht seinen ersten Titel findet, weil er einst seine Schlittschuhe vergessen und den Schweizer Pass nicht rechtzeitig bekommen hat. Eigentlich sollte er immer noch für Biel spielen. Er setzt seine Karriere nach 200 NHL-Spielen (59 Punkte) im Herbst 2012 beim EHC Biel fort. Von dort wechselt er nach nur einer Saison zu Gottéron.
Aber drei Jahre später ist er wieder in Biel. Der Grund für die Rückkehr ist eine Geschichte, die nicht einmal ein Chronist erfinden kann. Marc-Antoine Pouliot muss Gottéron im Oktober 2016 verlassen. Er hat in zehn Spielen bloss drei Skorerpunkte gebucht. Aber das ist nicht der Grund, warum er gehen muss. Als Gottéron am 1. Oktober zum Auswärtsspiel in Zug eintrifft, stellt sich heraus, dass er seine Schlittschuhe daheim vergessen hat. Gottéron steckt in einer Krise, ist auf Rang 11 abgerutscht und braucht dringend einen Sündenbock.
Trainer Larry Huras, der soeben Gerd Zenhäusern abgelöst hat, tobt und will gleich mal seine Autorität zelebrieren und ein Exempel statuieren. Er verlangt die Ausmusterung des vergesslichen Kanadiers. Sportchef Christian Dubé ist auf seiner Linie und verkündet: «Wir haben gemeinsam entschieden, dass es besser ist, wenn wir uns trennen.» So kommt es, dass Marc-Antoine Pouliot Ende Oktober 2016 wieder für Biel stürmt. Dort wäre er wohl noch heute, wenn es mit dem Schweizer Pass rechtzeitig geklappt hätte.
Aber wieder läuft etwas schief. Im Herbst 2020 freuen sich in Biel alle, dass er bald Schweizer sein und das Ausländerkontingent nicht mehr belasten wird. Er erfüllt auf den ersten Blick alle Kriterien für ein erleichtertes Einbürgerungsverfahren: Er ist inzwischen 34-jährig, wohnt bereits fünf Jahre in der Schweiz, ist seit über drei Jahren mit einer Bielerin verheiratet, integriert und dürfte für die innere und äussere Sicherheit des Landes keine Gefährdung darstellen. Alles klar? Nein.
Der Kanadier lebt zu diesem Zeitpunkt zwar schon seit über fünf Jahren in der Schweiz, doch seine Zeit in Freiburg wird ihm nicht ganz angerechnet. Weil er damals im Besitz einer Kurzaufenthaltsbewilligung war, eines sogenannten Ausweises L. Dieser ist gemäss Staatssekretariat für Migration für Ausländer gedacht, die sich in der Regel für weniger als ein Jahr in der Schweiz aufhalten. So kommt es, dass Marc-Antoine Pouliot im Frühjahr 2021 Biel verlässt. Er ist inzwischen 36 geworden. Zu alt, um als Ausländer noch einen neuen Vertrag zu bekommen. Servette verpflichtet ihn trotzdem und hat Glück: Im Dezember 2021 erhält er den Schweizer Pass und belastet das Ausländerkontingent nicht mehr. Seine Karriere geht weiter. Sein Vertrag läuft auch nächste Saison.
Ein wenig ist Marc-Antoine Pouliot Servettes Antwort auf Damien Brunner. Auch er ein Künstler mit schnellen Händen und feinem Spielinstinkt, der noch nie Meister war. Aber er ist langsamer als der gleichaltrige Brunner. Beide haben in diesem Final Geschichte geschrieben: Damien Brunner durch die entscheidenden Tore im zweiten Spiel. Der eingebürgerte Kanadier hat die Geschichte in der fünften und sechsten Partie geschrieben: Am Donnerstag hat er in Biel das 1:1 und den Siegestreffer zum 3:2 erzielt. Am Samstag das wegweisende 1:0 und als Zugabe das 5:0 beim 7:1. Er ist mit fünf Punkten aus fünf Spielen der beste Skorer des Finals.
Der Mann, der einst seine Schlittschuhe vergessen hat, ist drauf und dran, sein meisterliches Glück zu finden.
Aber eben: Von Genfs Alpinisten lernen wir, dass auch ein Scheitern ganz kurz vor dem Gipfel möglich ist. Somit verzichten wir darauf, all die Aussagen der Spieler wiederzugeben, dass man im Playoff Spiel für Spiel nehme, dass beim nächsten Spiel alles wieder bei 0:0 beginne, dass noch alles möglich sei, dass man immer noch an den Titel glaube (bei den Bielern) und dass man nicht an den Titel, sondern nur ans nächste Spiel denke (bei Servette).
Oder etwas poetischer: It’s not over till the fat lady sings.
Genf ist physisch stärker und robuster. Ob die letzte Niederlage Spuren in den Bieler Köpfen hinterlassen hat, sehen wir am Dienstag. Genf fand aber immer eine Antwort.
Wenn man auf 8600 Metern bei einem Sturm noch 248 Höhenmeter zu bewältigen hat, dann ist man alles andere als nahe am Ziel. Dann ist eben das Ziel unerreichbar. Zumal damals - 1952 - die Ausrüstungen noch längst nicht auf dem Stand waren, wie sie Bergsteiger heute haben.
Auch Servette kann noch scheitern. Vielleicht wird ein Bieler-Sturm sie am Erfolg hindern. Trotzdem sind die Genfer heute näher am Erfolg als ihre bergsteigenden Landsleute damals.
Die 248 Meter waren damals, wie wenn heute eine Mannschaft aus der MyLeague die zwei Siege gegen Biel einfahren müsste.