Dann greift er noch mal an. Mehrere Schläge lässt Oleksandr Ussyk auf seinen Gegner einprasseln. Rechts, links, rechts und wieder links. Mehrere Fäuste treffen ihr Ziel, besonders eine linke Gerade setzt Anthony Joshua zu. Der Brite hängt wenige Sekunden vor dem Ende des Kampfes in den Seilen, er kann nicht mehr.
Nachdem die Ringglocke die 12. Runde beendet, geht Ussyk auf beide Knie und macht das Kreuzzeichen. Wenige Augenblicke später wird er zum Schwergewichts-Weltmeister gekürt. Er ist am Höhepunkt seiner Karriere.
Es ist der 25. September 2021. Fast auf den Tag genau fünf Monate später marschiert Russland in Ussyks Heimatland ein. Der Ukrainer muss sich dem Militär anschliessen, mit einem Maschinengewehr durch die Strassen patrouillieren. Und wieder betet er zu Gott, wie er dem «Guardian» später sagen wird: «Jeden Tag habe ich Gott gebeten, dass niemand versucht, mich zu töten oder mich erschiesst. Und auch, dass ich niemanden erschiessen muss.»
Einen Monat war er im Krieg. Ussyk spricht von der schwierigsten Zeit seines Lebens, «weil ich nicht mit meiner Familie sein konnte». Ende März verliess der 35-Jährige die Ukraine mit seiner Familie. Wenig später brachen russische Soldaten in sein Haus in Worsel nahe Kiew ein, zerstörten einen Teil der Einrichtung und wohnten anschliessend eine Weile dort.
Derweil bereitete sich Ussyk in Polen auf die Titelverteidigung gegen Joshua vor. Obwohl er das Land zunächst nicht verlassen wollte. Doch beim Besuch in einem Spital überzeugten ihn verwundete Soldaten: «Sie baten mich, gegen Joshua zu kämpfen. Für unser Land zu kämpfen.» Er würde dem Land so mehr helfen, als wenn er in der Ukraine kämpfen würde.
Diese Stimmung im Land bekräftigte auch Ussyks Promoter Alex Krassyuk gegenüber Sky: «Die Leute wollen, dass er kämpft, dass er gewinnt. Alle wollen, dass die ukrainische Flagge gehisst und die Hymne auf der ganzen Welt gehört wird.»
Der Krieg hinterliess bei Ussyk wie bei so vielen Ukrainerinnen und Ukrainern aber seine Spuren. Der einst für seine lustige Art bekannte 1,91-Meter-Hüne ist todernst geworden. «Manchmal muss ich mich zu einem Lächeln zwingen», sagt er. Vor allem, dass er keine Antwort wusste auf die Frage seiner Kinder, weshalb andere Leute sie töten wollen, nagte an ihm.
Nun kenne er die Antwort aber, wie er in einem weiteren Gespräch mit dem «Guardian» erzählt. «Ich erkläre ihnen, dass die Russen schwache Leute sind. Deshalb wollen sie uns töten. Und deshalb werden sie den Krieg nicht gewinnen. Wir sind stärker als sie.» Vom Rest der Welt erwarte er hingegen mehr: «Manche tun zu wenig, um der Ukraine zu helfen. Viele verstecken sich und hoffen, dass der Krieg sie nicht betrifft.» Dies sei aber nicht möglich, weil der Krieg auf irgendeine Weise alle betreffen werde.
Unter diesen Umständen gestaltete sich die Vorbereitung zunächst schwierig. «Im ersten Monat des Kriegs habe ich fünf Kilogramm verloren», erzählte der Weltmeister von vier Boxverbänden (IBF, IBO, WBA, WBO). Gewicht, das er schnell wieder zulegen konnte. Mittlerweile habe er gegenüber dem ersten Kampf gegen Joshua 15 Kilogramm Muskelmasse zugelegt.
Er werde nun noch besser sein, macht Ussyk eine Kampfansage. Ob dies stimmt, können alle Ukrainerinnen und Ukrainer live im Fernsehen verfolgen. Der Kampf vom Samstag wird im Heimatland des Titelverteidigers kostenlos übertragen. Dafür hat Ussyk gesorgt. Er wäre gar bereit gewesen, die Kosten dafür zu übernehmen, um eine Bezahlschranke in der Ukraine zu beseitigen.
«Es ist grossartig und es wird die Verbindung zwischen mir und der Ukraine zeigen. Dass mir alle zu Hause zuschauen können, wird mich inspirieren», sagt der Boxer. Und vielleicht muss er sich nach dem Kampf für einmal nicht zu einem Lächeln zwingen. Danach will er in sein Heimatland zurückkehren.