Noch einmal nimmt Marc Rosset Mass, noch einmal drückt er die Filzkugel mit Topspin ins Feld, noch einmal degradiert er den Spanier Jordi Arrese zum Zuschauer. Dann: Jubelpose im Sand, Hände über dem Kopf zusammenschlagen, der ungläubige Blick auf die Anzeigetafel. 7:6, 6:4, 3:6, 4:6, 8:6 steht da geschrieben.
Marc Rosset läuft zum Netz, umarmt den glücklosen Lokalmatador. Der Schlaks und sein Gegner, es sieht aus wie bei Vater und Sohn, etwas unbeholfen und fremd. Aber der «Vater» ist Olympiasieger und der «Sohn» die personifizierte Enttäuschung von 7000 katalanischen Tennisfans.
Wie gross waren die Hoffnungen in Arrese gewesen! Die Dramaturgie wäre ja auch perfekt gewesen: Ein Katalane holt Olympiagold in Barcelona. Mehr geht nicht. Aber auch für Marc Rosset als Nicht-Katalane nicht. Der Unterschied: keine Erwartungen, keine Fallhöhe. Aber alles zu gewinnen. Rosset setzt nichts. Und gewinnt alles.
Die olympischen Sommerspiele haben im Frühsommer 1992 noch nicht begonnen und Marc Rosset weilt in den Ferien. Eher legt er die Beine hoch, als dass er sich auf dem Trainingsplatz abrackert.
Rosset ist erst 21-jährig und mit den Tennis-Fans einer Meinung: Eine reelle Chance auf den Olympiatitel? Gibt es nicht. Eine zielgerichtete Vorbereitung auf den Grossanlass ebenso wenig, dafür Strand und halbgare Trainingseinheiten.
Zum Vergleich: Sein späterer Finalgegner Jordi Arrese setzt auf den totalen Tunnelblick und macht sich ganze viereinhalb Monate fit für dieses angestrebte Karriere-Highlight. Mit dem psychischen Vorteil des Underdogs steigt Marc Rosset ins Turnier. Er gewinnt seine ersten Partien, und spätestens als er im Achtelfinal die damalige Weltnummer 1 Jim Courier ausschaltet, wird die Sportöffentlichkeit auf den Genfer aufmerksam.
Der Sieg gegen Courier, das ist auch in der Deutschschweiz für viele das Signal dafür, Rosset mit Argusaugen zu beobachten. Arrivierte Hoffnungsträger fallen nach und nach wie faule Äpfel aus dem Turnier und der Genfer ist, um im Bild zu bleiben, jener Apfel, der sich seines Nischendaseins in der Baumkrone entledigt und mit jedem Sieg an Grösse und Glanz gewinnt. Erst recht steigt die Spannung, als er im Viertelfinal auf den spanischen Silbermedaillengewinner von 1988, Emilio Sánchez, trifft.
Der einzige Unterschied zum späteren Finalgegner Arrese: Sánchez ist Madrilene und spielt als Vertreter des verabscheuten spanischen Zentralstaats im separatistischen Katalonien. Ansonsten: Brütende Hitze im Stadionkessel und tausende Tennisfans, die den Landsmann zum Sieg peitschen wollen. Marc Rosset behält einen kühlen Kopf und schaukelt diese zweitletzte Partie ins Trockene. Lediglich einen Satz gibt er ab.
Keinen Heimvorteil wettzumachen gilt es im Halbfinal. Goran Ivanisevic, der «Herr der Asse», heisst der Gegner. Aus Juniorenzeiten ist man sich bestens bekannt, zwischen den beiden anfangs der 1970er-Jahre geborenen Talenten liegt nur ein Jahr Altersunterschied. Auf dem Platz aber gibt Rosset vom ersten Aufschlag an den Takt vor. Er zerstört in glatt drei Sätzen die Finalträume des Kroaten.
Auch im Endspiel gegen Arrese – am Tag von Roger Federers 11. Geburtstag – tritt der Genfer aufs Gaspedal und liegt vermeintlich vorentscheidend mit zwei Sätzen in Führung. Doch jetzt scheint der Funke vom fanatischen Publikum auf Arrese überzuspringen. Der 27-jährige Spanier mit dem Stirnband dreht in der glühenden Hitze im Vall d'Hebron immer mehr auf, während beim damals auf Weltranglisten-Position 58 liegenden Rosset die Kräfte zu schwinden scheinen. Der logische Satzausgleich wird Tatsache.
Als Rosset einen Break-Vorsprung im fünften Satz preisgibt, scheint das Momentum auf der Seite des Katalanen. Doch der 2,01 Meter grosse Riese behält in der Hitze erneut kühlen Kopf und macht wenig später nach über fünf Stunden das entscheidende Break zum 8:6. Die Schweizer Delegation reist dank ihm nicht mit leeren Händen aus Barcelona ab. Rosset war der einzige Schweizer Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1992.
Nur 48 Stunden nach seiner Ankunft in der Schweiz, bei der der scheue Rosset von einer Schar Medienschaffenden und Politikern belagert wird, ist er bereits wieder in der Luft. Das ATP-Turnier in Cincinnati (USA) steht an. Die Olympia-Prämie von 12'000 Franken spendet Rosset. Die Goldmedaille und somit ein Stück Schweizer Sportgeschichte bleibt hingegen beim Genfer und ist heute sicher in einem Safe aufbewahrt.
Marc Rosset holt bis heute das einzige Schweizer Einzel-Tennis-Gold der Herren bei Olympia. Roger Federer hat es 2012 in London «nur» zu Silber gereicht. Doch auch der «Maestro» darf sich Olympiasieger nennen: 2008 triumphierte er in Peking an der Seite von Stan Wawrinka in Doppel. Auf den zweiten Olympia-Sieg im Tennis musste die Schweiz bis ins Jahr 2021 warten, als Belinda Bencic in Tokio Gold gewann. (tat)