Das WM-Finale von 1954 ist der letzte grosse Strassenfeger der Radioreportage. Das Fernsehen spielt noch keine Rolle. «Bozisk, immer wieder Bozisk, der rechte Läufer der Ungarn hat den Ball ...» Es ist die entscheidende Passage aus der legendären Radioschaltung von Herbert Zimmermann am 4. Juli 1954.
Die Ungarn drängen, die Deutschen stemmen sich dagegen. Es steht 2:2. Der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. Noch sieben Minuten sind zu spielen, und immer wieder hat Jozsef Bozisk den Ball – «verloren diesmal!» Verloren an Hans Schäfer. Reporter Zimmermanns Stimme verrät die Verwunderung, und das Folgende erscheint wie zwangsläufig: Schäfer flankt, den abgewehrten Ball übernimmt der heranstürmende Helmut Rahn. Der müsste mit dem rechten Fuss schiessen, legt aber den Ball an zwei Ungaren vorbei auf links und zieht von der Strafraumgrenze ab.
Rahn kommt vom eigenen Schwung zu Fall, so wuchtig hat er geschossen. Der Ball setzt auf dem nassen Rasen auf und wird noch schneller. Torhüter Gyula Grosics streckt sich, aber er hat keine Chance. 3:2 für Deutschland. Ungarn, die weltbeste Mannschaft, seit 34 Spielen unbesiegt, Olympiasieger, verliert. Oder besser: ist von Deutschland niedergekämpft worden.
Dieses Finale von Bern ist eine grosse Erzählung, die der deutschen Nation bis ins 21. Jahrhundert hinein Identität stiftet. Das Geschehen wird vermittelt über Herbert Zimmermanns Radioreportage, über Fotos in Schwarzweiss, über bruchstückhafte Filmbilder, Spielfilme, TV-Dokumentationen, Berichte von Augenzeugen.
Es gibt keine vollständige Aufzeichnung, schon gar nicht gab es eine Technik, die hätte aufzeigen können, ob Ferenc Puskas fünf Minuten vor Abpfiff seinen Schuss, der zum 3:3 ins Netz fährt, tatsächlich aus Abseitsposition abgab. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Treffer regulär war und vom britischen Schiedsrichter Bill Ling hätte anerkannt werden müssen. Die Ungaren schworen auch Stein und Bein, dass Schäfer den ungarischen Goalie Grosics regelwidrig behinderte, als Rahn zum 2:2 ausglich. Zu beweisen ist nichts. Es gibt keine gültige Wahrheit. Und deshalb lebt der Mythos.
Die politischen Deutungen sind eine Sache. Die andere ist der Sport. Der deutsche Fussball trägt das Erbe dieses 4. Juli bis heute mit sich. Als Ansporn und zugleich als Last. Viele Legenden wurden an diesem Tag geprägt, die noch heute gültig sind. Allen voran jene der Tugenden Kraft, Wille, Einsatz. Sie gelten fortan für alle Zeiten als typisch für den deutschen Fussball. Kein spielerischer Glanz ändert daran etwas.
Aber auch die Legende vom deutschen Dusel wird in diesem Finale geboren. Zu glücklich ist die Wende vom 0:2 zum 3:2, das aberkannte, wohl reguläre Tor zum 3:3. Dabei hatten die Deutschen 1954 vor allem eine spielerisch, eine technisch brillante Mannschaft, die im Halbfinale fast brasilianisch gespielt und Österreich 6:1 zerlegt hatte. Doch damals galt die ungarische Wundermannschaft als spielerisches Jahrhundertphänomen.
Erst der schwere Boden gab den Deutschen wohl eine Chance und mit dem Regen flossen weitere Legenden. So auch jene des technischen Vorsprungs der fleissigen Wirtschaftswunder-Deutschen in Form der Schraubenstollen, die Adi Dassler (Namensgeber für die Marke Adidas) eigens für die Mannschaft von Sepp Herberger entwickelt hatte. Je nach Tiefe des Rasens konnten verschiedene Stollenlängen eingeschraubt werden. Das zahlte sich im Finale aus. Die Eintrittspreise betrugen übrigens 5 Franken für einen Stehplatz und die teuersten Sitzplätze kosteten 30 Franken.
Man muss sich hineinfühlen in diese Zeit, in diese Atmosphäre. Ein regennasser Julitag. Ein überfülltes Stadion mit mehr als 62'000 Zuschauern. Lärmende deutsche Anhänger, vermutlich mehr als 30'000, aufgedreht bis zum Rande der Hysterie. Aber doch hat alles seine Ordnung. Kein Zaun zwischen Tribüne und Spielfeld. Und dann scheint das Spiel nach acht Minuten schon entschieden zu sein. Puskas trifft zum 1:0 und Zoltan Czibor erhöht auf 2:0. Schon alles aus?
Nein. Max Morlock verkürzt auf 1:2. Rahn gleicht aus. Bei Halbzeit steht es 2:2. Nach der Pause suchen die Ungarn die schnelle Entscheidung. Doch die Deutschen wissen jetzt, dass sie eine Chance haben. Das Glück steht ihnen bei. Die Ungarn treffen die Latte, den Pfosten. Der überragende Torhüter Toni Turek hält und hält und hält. Herbert Zimmermann nennt ihn in seiner Reportage «Fussballgott» und Turek wird es ein Leben lang bleiben. Auch dies ein Teil des Mythos.
Vieles bleibt letztlich dem Zufall geschuldet. Aber hinterher wirkt es so, als habe Nationaltrainer Sepp Herberger alles genau so geplant. Die Legende vom Trainerfuchs. Um 18.55 Uhr ist das Spiel aus. Deutschland ist Weltmeister. Fussball ist von nun an Deutschlands Nationalsport. Viele Historiker sagen, die Bundesrepublik Deutschland sei erst an diesem Tag geboren worden.
Die heimkehrenden Helden werden verwöhnt mit den Segnungen des Wirtschaftswunders und einer Begeisterung, die unfasslich wirkt. Sie erhalten Kühlschränke und Volkswagen, Urlaubsgutscheine und Sitzgruppen und jeder einen Goggo-Roller.
Als Herbert Zimmermann seine Reportage mit dem legendären Ausruf: «Aus, aus, aus, aus – das Spiel ist aus!» beendet, unterliegt er einem Irrtum. Denn der Schlusspfiff ist vielmehr der Auftakt eines nationalen Fussballrausches, der bis heute kein echtes Ende gefunden hat. 50 Jahre danach hat Bundeskanzler Gerhard Schröder noch geweint, als er den Film «Das Wunder von Bern» im Kino sah.
Und es fehlt damals auch nicht der Eklat. Verbandspräsident Dr. Peco Bauwens sorgte mit einer bös nationalistisch gefärbten Rede dafür. Als er das «Führerprinzip» für den Triumph verantwortlich macht, bricht der Bayrische Rundfunk die Übertragung sofort ab. Bauwens wird vom Bundespräsidenten Theodor Heuss öffentlich gerügt.
Die Zeit nach den Jubelfeiern, so sagt es später Verteidiger Werner Kohlmeyer, «war wie ein einziges verlorenes Wochenende.» Die Ernüchterung kommt schnell. Deutschlands erste Weltmeister-Mannschaft hat keine Zukunft. Das Team, das am 4. Juli den Titel gewinnt, steht nie mehr in Originalbesetzung auf dem Rasen. Ja, die Weltmeisterelf hatte überhaupt nur zweimal (Halbfinal, Final) in dieser Zusammensetzung gespielt. Ein Rekord in der WM-Geschichte.
Nach 1954 geht es jahrelang bergab. Der Sturz des Weltmeisters ist jäh. In der Saison nach dem Titelgewinn (1954/55) verlor Deutschland als Weltmeister gleich die ersten drei Spiele und vier der ersten sechs Partien. 1955/56 kommt es noch schlimmer. Fünf Pleiten, ein Remis, bloss zwei Siege. Sogar die Schweiz bringt es am 21. November 1956 in Frankfurt fertig, den Weltmeister zu besiegen (3:1). Dabei hatten die Schweizer nach der 5:7-Niederlage im WM-Viertelfinale von 1954 von 14 Länderspielen nur noch ein einziges gewonnen.
Deutschland erreicht bei der nächsten WM 1958 immerhin das Halbfinale (Niederlage gegen Schweden) und verliert gegen Frankreich das Spiel um Platz drei. 1962 ist schon im Viertelfinale gegen Jugoslawien Lichterlöschen und Nationaltrainer Sepp Herbergers Zeit ist nun auch abgelaufen. Erst ab 1966 (WM-Finalniederlage) ist Deutschland wieder eine der grossen Mannschaften der Welt.