Ende 2004 hatte Roger Federer das Australian Open, Wimbledon und das US Open je mindestens einmal gewonnen. In den Jahren 2004, 2006 und 2007 fehlt jeweils nur das French Open zum Grand-Slam, allen grossen Titel in einem Jahr. Doch der Sieg in Paris schien für den Schweizer unerreicht zu bleiben. 2009 trauen ihm den Triumph in der Stadt der Liebe nur noch die wenigsten zu. Nadal – gegen den er seit 2005 viermal verloren hatte (dreimal im Final) – und auch Novak Djokovic scheinen zu stark zu sein.
Doch dann scheidet Djokovic am 30. Mai in der dritten Runde gegen Philipp Kohlschreiber aus. Einen Tag später erwischt es sensationell im Achtelfinal auch Rafael Nadal gegen Robin Söderling – es war die erste Niederlage in Roland Garros für den Spanier. Und plötzlich ist Federer vor seinem Achtelfinal am Pfingstmontag gegen Tommy Haas der grosse Turnierfavorit. Gegen keinen der übrig gebliebenen Spieler hat der Baselbieter zuvor auf Sand je verloren. Der Weg zum Karriere-Slam ist frei.
Die letzten neun Spiele hat er gegen den Deutschen gewonnen (zwei davon durch Aufgabe). Doch die Weltnummer 63 wehrt sich nach Kräften. Ja, mehr als das: Er ist auf dem Weg zum Sieg. Mit 2:0-Sätzen und 4:3 führt Haas, als er sich bei Service Federer und 30:40 einen Breakball und damit einen «kleinen Matchball» erspielt.
Federers Aufschlag ist zu Beginn der Partie unantastbar. Bis zum 6:6 im ersten Satz gibt er keinen einzigen Punkt bei eigenem Service ab, doch ausgerechnet im Tiebreak reicht Haas ein Minibreak (7:4) zum Satzgwinn. Federer gibt auch in den nächsten drei Servicespielen nur zwei Punkte ab. 36 von 38 möglichen Punkten bringt er ins Trockene.
Doch ausser dem Aufschlag funktioniert beim Schweizer nichts. Das Grundlinienspiel ist eine Katastrophe: «Ich habe zweieinhalb Sätze lang das Grundlinienspiel überhaupt nicht gespürt, es war aber mit dem erneut sehr stark drehenden Wind auch enorm schwierig.»
Den zweiten Satz verliert Federer mit 5:7 und als er sich im dritten Satz beim Stand von 3:4 und 30:40 mit eben jenem Breakball konfrontiert sieht, ist er wohl nicht der einzige, der sich schon am Koffer packen sieht. Fünf Pünktchen trennen ihn vom Aus. Gewinnt er den Punkt nicht, ist wohl Feierabend.
Haas meint danach erkannt zu haben, dass sich Federer nach dem Ausscheiden von Nadal und Djokovic zu sicher war. Der Schweizer verneint: «Für mich wäre es eine andere Situation, wenn ich im Final wäre und dann nicht Rafa auf der anderen Seite steht. Aber solange ich noch nicht so weit bin, ist es noch nicht wichtig.»
Vielleicht hat Federer beim angesprochenen Breakball auch schon leicht resigniert. Er spielt nämlich nicht so, als ob es hier um alles geht, sondern als ob die Partie im ersten Game wäre. Auf den Cross-Return von Haas umläuft er die Rückhand und ballert seine Vorhand mit vollem Risiko cross über den Court. Und tatsächlich: Der Ball kratzt die Linie, der Breakball abgewehrt.
«Nach dieser Vorhand beim Breakball habe ich an den Sieg geglaubt, das war mein erster sehr guter Schlag in dieser Partie», wird Federer später gestehen. Und Haas? Der ist sich sicher, dass er den Match mit dem Break gewonnen hätte. Doch er muss eingestehen: «Da muss man einfach den Hut ziehen und sagen: ‹Darum ist er Roger Federer.›»
Der Punktgewinn in Extremis stellt sich tatsächlich als Wendepunkt heraus. «Ich wusste, dass ich später auf diesen Ball zurückschauen würde», wird er nach der Partie sagen. Aber erst gewinnt Federer das Game und schafft im nächsten Servicespiel von Haas das entscheidende Break. Er gewinnt den dritten Durchgang 6:4, übernimmt die Kontrolle der Partie und fliegt mit 6:0 und 6:2 in 3:07 Stunden zum Sieg.
Im Viertelfinal wird Federer Gael Monfils in drei Sätzen bezwingen, im Halbfinal Juan Martin Del Potro nach 1:2-Satzrückstand. Im Endspiel gegen Robin Söderling ist der Schweizer nicht mehr zu stoppen. Er siegt 6:1, 7:6 (7:1), 6:4, sichert sich seinen ersten Roland-Garros-Titel und vervollständigt nach Fred Perry (1935), Don Budge (1938), Rod Laver (1962), Roy Emerson (1964) und Andre Agassi (1999) als sechster Spieler den Karriere-Slam. Das French Open hat er seither nicht mehr gewonnen.