Wenn es um die USA geht, sind die Europäer auf einem Auge blind. Alle kennen die Tea Party, die reaktionäre Grassroot-Bewegung der Republikaner. Wir ärgern uns über den dummen George W. Bush und machen uns über die doofe Sarah Palin lustig, aber wer kennt schon die Wobblies, die Progressives – und wer kennt schon Elizabeth Warren?
Elizabeth Warren ist keine klassische Linke und schon gar keine typische Politikerin. Sie ist zwar der aufgehende Stern der demokratischen Partei in Washington. Doch ihre Familie stammt aus Oklahoma, dem Staat, der durch eine idiotische Agrarpolitik in den 1930er Jahren in eine riesige Staubwüste verwandelt wurde, aus dem die Menschen in Massen flüchteten. Ihr Schicksal hat John Steinbeck im Roman «Die Früchte des Zorns» meisterhaft beschrieben.
Die Familie von Elizabeth Warren blieb in der Staubschüssel. Ihr Vater war ein Kaufmann, der aber nach einem Herzinfarkt nur noch als Hausabwart arbeiten konnte. Um den Abstieg in die Armut zu vermeiden, musste ihre Mutter als Telefonistin in einem Warenhaus arbeiten, eine Kränkung, die sie nie überwand und ihrem Mann ein Leben lang unter die Nase rieb.
Die junge Elizabeth Warren war eine fleissige Schülerin und konnte glänzend debattieren. Ihre Gesinnung war puritanisch-konservativ. Sie betete für die Soldaten im Vietnamkrieg, in dem auch einer ihrer Brüder kämpfte. Als sie sechzehn war, erhielt sie ein Stipendium für die George Washington University. Sie heiratete, wurde Mutter und trat der republikanischen Partei bei.
Das Schicksal ihrer Familie beseelte auch Warrens akademisches Interesse. Zunächst wollte sie die Marktwirtschaft stärken, weil sie überzeugt war, dass das System von Sozialschmarotzern missbraucht wurde. Doch je mehr sie sich mit den grusligen Details des Konkursrechts befasste, desto mehr wurden ihr die Augen geöffnet.
In seinem Buch «Die Abwicklung» schreibt George Packer über Warren:
Das Studium veränderte ihr Leben. Warren liess sich von ihrem Mann, der sie als Hausfrau einsperren wollte, scheiden. Sie entwickelte sich zu einer führenden Vertreterin des Konkursrechts. 1992 wurde sie an die Harvard University berufen, wo sie später auch einen jungen Juristen namens Barack Obama antreffen sollte.
Skandale wie der Konkurs des Hedge Funds Long Term Capital Management und Enron liessen die Republikanerin die Seite wechseln. Die Subprime-Krise, in der Millionen von einfachen Amerikanern ihr Haus verloren, führte dazu, dass Warren ihr Feindbild definitiv gefunden hatte: Die Banken.
Als Präsident Obama ein Gesetz für die Verbesserung des Konsumentenschutzes bei Bankkrediten ausarbeiten liess, erinnerte er sich an seine ehemalige Harvard-Kollegin. «Und so kam Warren nach Washington», schildert Packer und fährt fort:
Als Präsident Obama mit dem Gedanken spielte, Warren zur Chefin einer Behörde zur Verbesserung des Konsumentenschutzes zu ernennen, liefen die Banken Amok. Für sie war die Harvard-Juristin der «fleischgewordene Satan». Deshalb setzten sie Himmel und Hölle in Bewegung, um Warrens Wahl zu verhindern.
Auch bei den etablierten Demokraten hatte Warren wenig Freunde. Mit Timothy Geithner, dem Banken freundlichen, ehemaligen Finanzminister, pflegte sie eine innige Feindschaft, zum Clinton-Clan ging sie auf Distanz. Doch Washington hatte ihre politischen Instinkte endgültig geweckt. Warren kandidierte als Senatorin für den Bundesstaat Massachusetts, erwies sich dabei als hervorragende Wahlkämpferin und wurde gewählt.
Warren lässt die längst vergessene linke Tradition der US-Politik wieder aufleben. Sie erinnert an die Wobblies – so wurde die Gewerkschaft Worker of the World einst genannt – und der Progressives, die in den Zwischenkriegsjahren eine Ernst zu nehmende, politische Kraft waren.
Sie scheint aus einer Zeit zu kommen, «als die amerikanische Prärie wütende, wortgewaltige Kämpfer für das einfache Volk hervorbrachte, Politiker wie William Jennings Bryan und Robert LaFollette, George Norris und Hubert Humphrey», wie Packer sich ausdrückt.
Gerade diese scheinbar altmodische Erscheinung macht Elizabeth Warren wieder modern. Selbst Konservative äussern heimliche Bewunderung für die Senatorin. Einer davon ist David Brooks, Kolumnist in der «New York Times». Die Wut auf Banken und Abzocker hat inzwischen weite Teile des Mittelstandes erfasst. Hillary Clinton kann von dieser Wut kaum profitieren, zu eng ist sie mit der Wall Street und dem Establishment verbandelt.
«Es liegt etwas in der Luft», stellt Brooks fest. «Grundsätzlich sprechen zwar alle strukturellen und historischen Fakten für Clinton, aber jeden Tag wenden sich mehr Demokraten den Emotionen und Weltansichten von Warren zu.»