Zuerst drei Beispiele:
In New York haben sich die Wohnungsvermittlungsagentur Airbnb und die Behörden darüber geeinigt, wie Daten über die Kunden von Airbnb ausgetauscht werden sollen. Der Community-Marktplatz ist längst den Kinderschuhen entwachsen. Heute werden Wohnungen und Appartements in 340'000 Ortschaften in 192 Ländern vermittelt und das Unternehmen hat einen geschätzten Börsenwert von zehn Milliarden Dollar.
Im Silicon Valley haben sich kürzlich Venturekapitalisten, Händler und Investoren mit Vertretern der IT-Industrie getroffen. Alles, was Rang und Namen hat, war anwesend: Goldman Sachs, JP Morgan und Credit Suisse. Diskutiert wurde dabei nicht über neue Finanzinstrumente, sondern über ein neues Geschäftsmodell, das sogenannte Peer-to-Peer-Lending (P2P). Gemeint ist dabei eine Kreditvermittlung, bei der die Banken als Zwischenhändler ausgeschaltet werden.
P2P ist inzwischen so erfolgreich, dass die Banken aktiv werden und nach Wegen suchen, wie sie sich ebenfalls einbringen können. «Zuerst in den USA und jetzt auch in Europa wird P2P von professionellen Investoren und auch von den Banken selbst kopiert», meldet die Financial Times.
Michael J. Moritz ist Vorsitzender der Venture-Kaptialfirma Sequoia Capital, Milliardär und wurde letztes Jahr von der englischen Königin in den Adelsstand erhoben. Sein jüngstes Projekt heisst Instacart und funktioniert wie folgt: Wer keine Lust hat, in überfüllten Läden oder Supermärkten seine Zeit zu vertrödeln, schickt seine Einkaufsliste an Instacart. Mit einer App findet diese einen «persönlichen Shopper», der den Einkauf übernimmt und umgehend beim Auftraggeber abliefert.
Die «persönlichen Shopper» geschäften auf eigene Rechnung und verdienen zwischen 15 und 30 Dollar die Stunde – deutlich mehr als die Kassiererin im Supermarkt. Instacart beschäftigt inzwischen 50 festangestellte Mitarbeiter und rund 1000 persönliche Shopper. Das Unternehmen ist in New York, San Francisco, Chicago und Boston tätig. Bis Ende Jahr soll der Dienst in 17 amerikanischen Städten angeboten werden.
Airbnb, P2P und Instacart zeigen: Die viel zitierte Sharing Economy ist inzwischen mehr als ein Hype. Getauscht und geteilt werden nicht mehr Rasenmäher gegen Kaffeeautomaten oder Fussreflexmassagen gegen Gitarrenstunden. Im digitalen Zeitalter werden Tauschen und Teilen zu einem Geschäftsmodell, das immer grössere Bereiche der Wirtschaft umfasst.
Der Grund des Wandels liegt nicht in unseren Köpfen. Wir sind in den letzten Jahrzehnten nicht plötzlich vernünftigere und bessere Menschen geworden. Hingegen ist unsere technische Infrastruktur im Begriff, sich zu ändern. Im digitalen Zeitalter ermöglicht das Internet, dass sich im Cyberspace Gemeinschaften von Menschen bilden, die örtlich sehr weit voneinander entfernt sind.
Gleichzeitig ändert sich auch unsere Energie-Infrastruktur. Der Politologe Jeremy Rifkin spricht von einem Energie-Internet. Gemeint ist Folgendes: Energie aus fossilen Quellen oder Atomenergie ist zentral organisiert, Energie aus Sonne, Wind und Wasser hingegen dezentral. Weil der Wind nicht immer weht, die Sonne nicht immer scheint und Strom nur schlecht aufbewahrt werden kann, erzwingt nachhaltige Energie den Tausch.
Das Energie-Internet macht diesen Tausch möglich. Es entsteht so ein feingliedriges Energie-Austauschnetz, in das sich selbst kleinste Energiehersteller – beispielsweise die Solarzelle auf dem Eigenheim – einklinken können.
Der zweite grosse Treiber der Sharing Economy ist Big Data. In der digitalen Gesellschaft werden immer gewaltigere Datenmengen in immer kürzerer Zeit ausgewertet. Daten werden zum wichtigsten Rohstoff der Zukunft.
Was dies bedeutet, erläutert Marc Teerlink von IBM wie folgt: «Wissen ist kein Stück Schokolade, das nur einer essen kann. Wissen kann man teilen, und alle Seiten profitieren davon. Im Internet kann man bereits jetzt Ansätze einer neue Sharing Economy sehen. In den letzten fünf Jahren sind so viele neue Businessmodelle entstanden und ein neuer Typ von Unternehmer aufgetaucht. Es geht nicht mehr darum, Daten zu besitzen, sondern Datenpools zu schaffen, von denen alle profitieren können. Teilen ist zudem nicht nur ein erfolgreiches Businessmodell, es macht auch sehr viel Spass.»
Im digitalen Zeitalter entstehen so die Voraussetzungen für eine neue Wirtschaftsordnung. Jeremy Rifkin schwärmt gar bereits von einer neuen, «empathischen» Gesellschaft. Das mag leicht übertrieben sein, doch der technische Fortschritt könne tatsächlich den Charakter der Marktwirtschaft entscheidend verändern. Was ist damit gemeint?
Adam Smith, der Vater der Marktwirtschaft, hat den Egoismus der Menschen und die unsichtbare Hand des Marktes als die beiden entscheidenden Faktoren für Fortschritt und Wohlstand erkannt. Wenn Unternehmer aus Eigeninteresse handeln und vom Markt zum gegenseitigen Wettbewerb gezwungen werden, ist der Gesamtnutzen für die Gesellschaft am grössten. Für viele gilt das bis heute. «Gier ist gut» ist bekanntlich das Motto der Wall Street. Teilen und Tauschen ist für Loser und naive Romantiker.
Wer so argumentiert, übersieht, dass Adam Smith im Edinburgh des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelebt hat. Die schottische Hauptstadt war damals für unsere Begriffe höchstens eine Kleinstadt. Man kannte sich gegenseitig. Gier und unsichtbare Hand wurden durch eine starke soziale Kontrolle im Zaum gehalten.
Smith träumte nicht von einer globalisierten Wirtschaft mit einer weltumspannenden Supply Chain, die von rund 150 multinationalen Konzernen beherrscht wird. Ihm schwebte eine Bürgergesellschaft mit selbstständigen Kleinunternehmen und Bauern vor.
Im modernen Kapitalismus fehlt die soziale Kontrolle. Gier und unsichtbare Hand richten sich gegen die Menschen. Im schlimmsten Fall entsteht eine Zalando-Wirtschaft. Zalando ist ein auf Textilien und Schuhe spezialisiertes, deutsches Online-Warenhaus. Es siedelt seine Verteilzentren in strukturschwachen Gebieten der ehemaligen DDR an und profitiert dabei von Niedrigstlöhnen der Angestellten und Steuererleichterungen und Zuschüssen der Kommunen. Deshalb kann sich Zalando den Luxus leisten, seine Pakete in halb Europa verteilen zu lassen, auch in der Schweiz.
Volkswirtschaftlich ist das Ergebnis grotesk: Die Arbeitnehmer leben an der Armutsgrenze, die Gemeinden erhalten kaum neue Steuereinnahmen und das Verteil- und Umtauschsystem ist ein ökologischer Albtraum. Nicht einmal betriebswirtschaftlich geht die Rechnung auf: Zalando schreibt Verluste. Den grossen Reibach erhoffen sich die Investoren von einem Börsengang. Dann sollen Milliarden Euro abgezockt werden.
Internet und Big Data machen eine Alternative zur Zalando-Wirtschaft möglich: Eine Markwirtschaft, die nicht auf Gier, sondern auf Kooperation beruht. Die unsichtbare Hand steuert dabei nicht mehr den Egoismus, sondern die Schwarmintelligenz. Diese Kombination könnte künftig dafür sorgen, dass eine Wirtschaftsordnung entsteht, die sich nicht gegen die Menschen richtet, sondern ihnen ein Leben in Wohlstand und Würde ermöglicht.
Selbstverständlich erfolgt ein solcher Wandel nicht über Nacht und alles andere als reibungslos. Bestehende Geschäftsmodelle werden bedroht oder gar untergehen.
Wenn Sie Hoteliers auf Airbnb und Taxifahrer auf Uber ansprechen, hält sich die Euphorie in Grenzen. Viele Experimente, die zunächst erfolgsversprechend aussehen, werden scheitern, andere sich nur dann durchsetzen, wenn der Leidensdruck übermächtig geworden ist.
Das ändert nichts daran, dass eine neue Wirtschaftsordnung möglich geworden ist – wenn wir die Gelegenheit beim Schopf packen. Oder wie es der Economist kürzlich formuliert hat: «Die Sharing Economy ist eine der grossen, nicht erwarteten Wohltaten des digitalen Zeitalters.»
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)