Der Bub müsse behandelt werden, fand der Kinderarzt. Er sei sehr intelligent, aber er habe motorische Entwicklungsdefizite. Und introvertiert sei er auch. Eine Ergotherapie würde beides verbessern, meinte er. Am besten noch vor dem Kindergarten.
Die Mutter, selber extrem ruhig, sanfte Stimme, erzählte von Tests, die ihr Sohn habe machen müssen, wie seine Zeichnungen bemängelt wurden und wie gestresst er gewirkt habe. Sie sorgte sich weniger um die Motorik, denn sie sah, wie extrem schnell er gerade wächst, aber sie fand:
Ihre Sorge war geweckt: Haben introvertierte Kinder in unserer lauten Welt schlechte Karten? Die amerikanische Buchautorin Susan Cain hat diese Frage schon vor Jahren gestellt. Ihr Buch «Still» wurde zum Klassiker. Sie prangerte damals das amerikanische Ideal der lauten, extrovertierten Menschen an und dass es nur noch darum gehe, sich gut verkaufen zu können. Sie schilderte, wie viele die extrovertierte Art zu übernehmen versuchten, um gehört zu werden. Und sich damit quälten.
Viele weitere Bücher wurden dazu geschrieben, sie trugen Titel wie «Die Macht der Introvertierten» oder «Leise Menschen, gutes Leben». Das neuste «Der Kluge denkt nach» des deutschen Karriereberaters Martin Wehrle, erschien Anfang Jahr. Es sind Verteidigungsreden für die Bescheidenen, die Ruhigen, die Konzentrierten, für die mitfühlenderen, fürsorglicheren und kooperativen stillen Menschen.
In der Realität hat sich wenig geändert: Noch immer sorgen sich Eltern, wenn das Kind die Hand nicht gibt und sich eher hinter ihnen verkriecht, als dass es mit fremden Kindern zu spielen beginnen würde.
Dagegen reden Eltern stolz von jenen Töchtern und Söhnen, die ohne Tränen morgens freudig in die Kita spazieren. Sie denken nicht daran, dass introvertierte Kinder vielleicht genau das Rüstzeug haben, um in der heutigen Welt erfolgreich zu sein. Es sieht ganz danach aus, als ob der Bub, der seine Flugzeuge bereitwillig teilt und genau beobachtet, was um ihn herum geschieht, zu jenen gehört, die wir als Erwachsene schätzen.
Geachtet wurde das Temperament der Introvertierten schon früher: Als die Menschen in kleineren Gemeinschaften lebten, wo jeder den anderen ziemlich gut kannte. Mit der Industrialisierung – so die Theorie – stiessen die Leute in den Städten und Fabriken plötzlich ständig auf Fremde, die sie in kurzer Zeit und in der Konkurrenz mit anderen von sich überzeugen mussten.
Wer stumm da sass, galt als unsicher und inkompetent, wenn nicht gar desinteressiert oder faul. Und langsam. Wobei Letzteres stimmt. Die deutsche Fachbuchautorin und Sprachwissenschafterin Sylvia Löhken erklärt:
Sie führt aus: «In ihrer hinteren Grosshirnrinde hat es weniger Platz zum Verarbeiten. Gleichzeitig denken Introvertierte komplexer und auch deshalb generell länger darüber nach, was gerade diskutiert wird.»
Gut möglich, dass die Diskussion längst an einem anderen Punkt ist, wenn der Mann oder die Frau seinen Einwand äussern möchte. Am Ende fragen sich die anderen: Warum sagt der nie was? Versteht er es nicht? Interessiert es sie nicht?
Der Solothurner Reto Sollberger kennt dieses Unverständnis. Er ist «Kommunikationstrainer für leise Menschen» und gehört selbst zu dem einen Fünftel der Bevölkerung. Als Kind überspielte er seine Zurückhaltung und war der Klassen-Clown. Inzwischen hat er auch mit seiner zurückhaltenden Art Erfolg in seinem Job als Coach. Und als Hobby-Musiker mag er zwar Auftritte vor vielen Menschen, aber sie rauben ihm Energie. Sollberger sagt:
Während des Lockdowns in der Corona-Krise ging es extrovertierten Personen schlechter, denn sie beziehen die Energie von aussen, im Austausch mit den andern. Sie brauchen deren Feedback. Bei den Introvertierten war das Gegenteil der Fall: Es ging ihnen im Lockdown gut, sie hatten Zeit, um die Batterien aufzuladen.
Sollberger verlässt seine Komfortzone absichtlich regelmässig und um sich mitzuteilen. Er sagt:
Sylvia Löhken hat ihren extrem introvertierten Sohn ebenfalls aufgefordert sich zu äussern: «Ich machte mit ihm ab, dass er sich einmal pro Lektion zu irgendetwas meldet. Das funktionierte prima. Es war wie ein Spiel.»
Damit Introvertierte an Sitzungen nicht um ihren Rede-Slot kämpfen müssen, rät sie ihnen, mit der Moderation abzusprechen, dass sie zu einem Punkt etwas sagen möchten. Wer also im Gegenzug das Wissen von den Stillen abholen will, lässt ihnen Vorbereitungszeit. Und Ideen sammelt man nicht via öffentliches Brainstorming, sondern man verteilt Zettel.
Trotz dieser angeborenen Zurückhaltung sind überraschend viele berühmte Leader Introvertierte: Nicht nur Rosa Parks oder Mahatma Gandhi, die Anführer gegen Rassismus und Kolonialismus. Auch mitten im schrillen Heute haben Bill Gates, Barack Obama, Angela Merkel, Warren Buffett und Mark Zuckerberg das in sich gekehrte Temperament.
Es leuchtet ein, dass wie Zuckerberg jene, die konzentriert allein für sich arbeiten können, in der digitalen Hightech-Branche Erfolg haben. Das ist ein Biotop für Introvertierte. Ungestört können sie ihre Kreativität voll entwickeln.
Aber selbst in der freien Wildbahn der Politik ist wie für Obama oder Merkel ein reflektiertes Temperament ein Vorteil. Denn in der globalisierten Welt, wo es kaum Verlässlichkeiten gibt, sehnen sich viele nach Sicherheit. Sprachwissenschafterin Sylvia Löhken führt aus:
Viele seien sehr vorsichtig. «Sie reden also nicht einfach drauflos, sondern denken zuerst einmal nach. Und wenn sie reden, vermitteln sie ihre eigene Sicherheit: Sie wissen, worüber sie reden,» erklärt Löhken.
Es stimme auch gar nicht, dass Chefs mehrheitlich extrovertiert seien. Die Extrovertierten würden bloss mehr auffallen. «Sie haben Erfolg in kurzfristigen Entscheidungsprozessen wie bei Lieferengpässen oder in der Feuerwehr.» Aber wenn es komplexe Situationen zu bewältigen gelte und viele Parameter zu berücksichtigen seien, könnten das Introvertierte besser. «Introvertierte Chefs haben zudem dort Erfolg, wo die Teammitglieder viel Verantwortung haben, in Start-ups beispielsweise.»
Doch wie werden aus stillen Beobachtern und Denkern Führungspersönlichkeiten? Längst nicht alle Introvertierten sind Sekretäre, Schriftstellerinnen, Chauffeure oder Forscherinnen. Was wird der vierjährige, scheue Bub?
Es ist egal, was er wird. «Wichtig ist nur, dass sich ein Mensch entfalten kann», sagt Priska Sibold, Ergotherapeutin in Zürich. «So lange eine Introvertiertheit einen nicht einschränkt, muss niemand therapiert werden.» Viele introvertierte Kinder hätten ein reiches Innenleben und seien ein guter Gegensatz zu den Hyperaktiven auf diesem Planeten.
Dass jene, welche den Trubel eigentlich scheuen, trotzdem manchmal zuvorderst stehen, hat damit zu tun, dass der Antrieb der Menschen, sich die Welt zu erobern, nicht nur ihr Temperament ist. Es ist auch ihre Neugierde. Davon ist Autorin Sylvia Löhken überzeugt und widerspricht der Theorie, dass Extrovertierte schon von klein auf mehr Erfahrungen sammeln, weil sie mutiger sind.
Curies Plan war nicht, eine berühmte Physikerin zu werden, sondern die Radioaktiviät zu verstehen. Die berühmteste Introvertierte der Gegenwart ist wohl Greta Thunberg.
Auch ihr Ziel war es nicht, von den Massen bestürmt zu werden, aber sie vertiefte sich in ein Problem, das ihr drängend erschien, so gründlich, bis es die einzig konsequente Handlung war, mit einem Kartonschild vor dem schwedischen Parlament zu protestieren.
Introvertierte haben das Zeug, die langfristigen Probleme zu lösen, weil sie etwas noch können, was den Extrovertierten mit ihren nach Reizen und Feedback lechzenden Gehirnen in einem Alltag von Push-Meldungen und zuckersüssen, sekundenschnellen Ablenkungen abhanden gekommen ist: die Fertigkeit, genau hinzuschauen. Und so zur Lösung zu kommen.
Greta half es – wie damals Gandhi oder auch Rosa Parks, die im Bus auf ihrem Sitz für Weisse sitzen blieb – dass sie extrem ruhig ist und gewissenhaft. Das riesige Vertrauen, das Introvertierte dann plötzlich von der Masse erhalten, ist die logische Konsequenz. Und es ist ihre geheime Macht.
Das stimmt. Eine Handvoll gute Freunde genügt.
Introvertierte denken länger nach.
Stimmt. Sie denken gerne weit voraus. Wollen Probleme langfristig lösen. Was aber mittelfristig keine Punkte gibt.
Häufig durchschauen Introvertierte mühelos Charakteren und Situationen. Überlassen gerne den Proleten das Feld. Kann man hervorragend an Sitzungen beobachten. Häufig reden die gleichen Schaumschläger.