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Yonnihof
Hat das Ich das Wir getötet?
06.10.2015, 14:2306.10.2015, 14:23
Am Wochenende erzählte mir eine Freundin, dass
sie kürzlich von einer Kollegin sitzengelassen worden sei. Dafür gibt es
normalerweise gute Gründe, z.B. dass man krank ist oder dass man keinen
Babysitter gefunden hat. Bei meiner Freundin war’s aber anders. Sie hatte ihre
Kollegin zu einem Konzert eingeladen (!) und diese schrieb ihr am Nachmittag
vor dem Konzert, sie habe gerade einfach nicht so Lust auf diese Band.
Aha.
Selbstverständlich war meine Freundin
stinksauer und liess ihre Kollegin das auch spüren. Diese sagte ihr am Ende am
Telefon, sie sei ja nur ehrlich gewesen und es gehe ja darum, dass beide Freude
am gemeinsamen Konzertbesuch hätten.
Mich brachte diese Situation zum Nachdenken.
Auch ich habe in letzter Zeit ähnliches erlebt. Einmal sogar sehr deutlich, als
ich eine kleine House Party bei mir zuhause schmiss und mir neun von 20 Gästen
in den zwei Tagen davor absagten, sieben gar am selben Tag. Auch hier war
niemand krank, sondern man hatte «zu viel Arbeit» und war deshalb «zu müde».
Andere schrieben, sie sässen «mitem Schatz ufem Sofa» und könnten deshalb nicht
mehr raus.
Und
auch hier stellte sich wieder die Frage: Ist das daneben oder einfach ehrlich? Wenn
ich persönlich diese Frage beantworten müsste, würde ich sagen: Es ist beides.
Einerseits
ist es – gerade bei Verabredungen zu zweit oder bei jemandem zuhause, wo man
weiss, dass die Gastgeberin für die entsprechende Personenzahl einkaufen
gegangen ist – eine wirklich schwache Leistung, sich so kurzfristig abzumelden.
Auf
der anderen Seite haben die Absagenden zumindest keine schlechte Entschuldigung
zusammengelogen. Nur vermittelt diese Ehrlichkeit mir als Gastgeberin natürlich
das Gefühl, ein Besuch bei mir sei es nicht einmal wert, vom Pischi in ein Paar
Hosen zu steigen und das Haus zu verlassen. Das ist verletzend. Spannenderweise
erlebe ich es als etwas anderes, wenn man bereits bei der Einladung ehrlich ist,
im Sinne von «Ich muss dann den ganzen Tag arbeiten und werde bestimmt auf den
Felgen sein, ich komme nicht».
Ich
habe das Gefühl, diesbezüglich eine Verschiebung festzustellen. Auch bei mir
selber. Ich sage auch schnell einmal «Okay, ich chume» und merke erst später,
dass es mir zu viel wird und dann melde ich mich wieder ab. Zwar nicht in dem
Extrem wie oben beschrieben, aber trotzdem: Ich habe sowas früher gar nicht
gemacht.
Warum diese Veränderung?
Einerseits
spielt bestimmt die Technik eine Rolle. Es ist einfach, sich zu verspäten, wenn
man per Handy schnell durchgeben kann, dass man zehn Minuten später kommt. Man
hat dann das Gefühl, die Zuverlässigkeit sei wieder erfüllt. Trotzdem ändert
das doch nichts an der Tatsache, dass man zu spät aus dem Haus ist, nicht?
Auf
der anderes Seite spüre ich auch eine Art «Gewalt der Selbstverwirklichung». Selbstverwirklichung
ist etwas Grossartiges, sie ist die Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide
und es ist ein Privileg, dass wir uns selber verwirklichen können und dürfen.
Gleichzeitig rücken das Ich und dessen Bedürfnisse extrem in den Mittelpunkt
und es verkommt zum Primärziel, das zu machen, was einem gut tut – oder noch
viel eher, worauf man gerade Lust hat. Auch das ist grundsätzlich nichts
Schlechtes, es wird jedoch arg schwierig, wenn die unterschiedlichen Ichs
mitsamt ihren Bedürfnissen aufeinander treffen.
Zusammenleben
erfordert Kompromiss. Das Miteinander erfordert Verlässlichkeit. Wir müssen
wissen, worauf wir treffen und woran wir sind, wenn wir uns auf andere
einlassen, sei das in Freundschaften, im Job oder in Liebesbeziehungen.
Oder ist Verbindlichkeit aus der Mode geraten? Beim Abmachen, bei Versprechen und in
vielen Partnerschaften? Ist das Ich so wichtig geworden, dass das Wir keinen
Platz mehr hat? Oder wartet man stets auf eine bessere Alternative, bis hin zu
einem besseren Du?
Das Ich zu pflegen und
zu ihm zu schauen, ist enorm wichtig. Aber kann man das Ich auch zu
einem verwöhnten Goof verziehen, der nur die eigenen Bedürfnisse kennt? Fünf
Minuten liegen bleiben vs. pünktlich sein? Auf dem Sofa hängen vs. da
auftauchen, wo man sich angemeldet hat? Keine Lust vs. zum Konzert gehen, wie
man es versprochen hat?
Quo vadis, Verbindlichkeit?
Yonni Meyer
Yonni Meyer (33) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt.
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Lara ist weg. Nun so richtig. Weg-weg. Wir haben uns noch einmal getroffen, ich erspare euch die Details, es war ein Desaster. Vorwürfe ihrerseits, Verwirrung meinerseits, noch mehr Vorwürfe ihrerseits, noch mehr Verwirrung meinerseits. Hanna hat ihre Nummer am nächsten Tag eigenhändig löschen wollen, weil sie Angst hat, dass ich «schwach werde», was ich aber natürlich übergriffig fand und, Leute, ich kann mich ja wohl noch beherrschen.
Ich habe mich entschieden, ja, ich helfe, gehe vorbei, auch wenn keine Lust da ist. Denn das ist meine ganz eigene Vorstellung von leben mit meiner Gesellschaft.
Funktioniert nicht schlecht finde ich.