Der junge Kämpfer hat keine Zeit, um dem König zu huldigen. Er wurde gerade kopfüber in den Boden gerammt und spuckt mit hochrotem Gesicht Sägespäne aus. In einem solchen Zustand kann man sich einfach nicht für den König interessieren. Und das, obwohl der Mastbulle «König» ein besonders prachtvolles Exemplar ist.
Ein Sonntag in Küssnacht: Die Schweiz feiert sich hier selbst. Lebensart, Tradition, Fairness, Freundlichkeit, das Wetter, das Essen, das Bier, der Sport und, ja, eben auch die prächtigen Bullen. Das ganze Programm. Der Siegermuni «König» ist der erste Preis des Schwingfestes in Küssnacht am Rigi. Langsam läuft das Tier an mir vorbei, schaut mich kurz misstrauisch an, ganz so, als ob es erkennt, dass ich nicht von hier stamme. Doch es trottet weiter durch die Arena, die mit 2000 Zuschauern gut gefüllt ist.
«Das hier ist ein typisch schweizerisches Fest», erklärt Karl Müller, eigentlich «Müller Karl», wie es hier heisst: «Die fairen Wettkämpfe, aber auch das Drumherum, die Musik, die Menschen: Es ist einfach eine tolle Veranstaltung.»
Mit Volksfesten habe ich Erfahrung, auch in Norddeutschland wird gern gefeiert. Und ich sehe auch gleich die wichtigsten Bausteine einer solchen Veranstaltung: Trachten, die örtliche Blaskapelle, Grillstationen, die beleibten, schwitzenden Männer am Bierstand.
Ich bin zum ersten Mal beim Schwingen, auf Anweisung der watson-Redaktion wie bei meinem Hornussen-Besuch ohne jede Vorbereitung. Der 79-jährige «Müller Karl» kann darüber nur Lachen. Er geht schon seit den 1960ern zum Schwingen. Und schwärmt: «Hier ist es sehr friedlich, es gibt keine Hooligans und keine Schlägereien. Ich kann meine Tasche mit Wertsachen einfach rumliegen lassen und keiner klaut sie», sagt Müller, nimmt seinen Rucksack dann aber doch mit, als er zum Essen geht.
Steak, Wurst und Softeis gibt es auf dem Festplatz. Ich entscheide mich für das Steak und merke beim Essen, dass es eigentlich erst elf Uhr ist. Egal, denke ich, immerhin trinke ich noch kein Bier. Anders als die Herrengesellschaft auf der Tribüne. «Suuuuuuper Sooooontaaaag», grölt sie und versucht, musikalisch mit einem Junggesellenabschied auf der gegenüberliegenden Seite der Arena zu konkurrieren, der jedoch schon einen Kasten Bier in Führung liegt. Es ist der letzte Baustein eines ordentlichen Volksfestes: betrunkene Männergruppen.
«Es wird zwar getrunken, aber das Publikum ist sehr friedlich», versucht Michelle Baumann (die «Baumann Michelle»), die Leiterin des Rettungsdienstes Küssnacht, zu beschwichtigen. «Das ist hier ganz anders als beim Fussball oder Eishockey.» Baumann hat recht: Prügeleien oder andere Aggressionen gibt es hier nicht. Das kenne ich aus der Heimat durchaus anders.
Die Sanitäter sind hier in erster Linie für die Verletzungen der Schwinger zuständig. Hinter Baumann sitzt ein junger Mann in einem Campingstuhl, ein Coolpad liegt auf seinem Knöchel. Für ihn ist das Schwingfest schon vor der Mittagszeit gelaufen.
Dabei hatte ein Pfarrer noch am Morgen gemeinsam mit den Zuschauern für die Gesundheit der Schwinger gebetet: «Guter Gott, tue alle Schwinger beschützen.» Es erinnert mich ein wenig an einen Motorradgottesdienst, bei dem die Fahrer für Unterstützung bei zukünftigen, riskanten Überholmanövern bitten. In Küssnacht hilft das Gebet wenig: «Drei Schwinger mussten wir schon mit Bänderverletzungen nach Hause schicken», sagt Baumann und zählt die gängigen Verletzungen beim Schwingen auf: Knie, Schultern, Nacken, Daumengelenke und eben Füsse.
«Zuschauen ist eigentlich der Horror für uns. Die Bewegungen sind gegen die Anatomie», sagt sie. Das deckt sich mit meinen Eindrücken: Da ist der Kämpfer, der seinen Rücken mit aller Kraft durchdrückt, seinen Kopf nutzt er dabei als Stütze. Da ist der Schwinger, der seinen Kontrahenten hochhebt, zu Boden schleudert und sich mit seinem 100-Kilo-Körper drauf wirft. Als ich über das Gelände laufe, begegnen mir erschöpfte Schwinger: mal den Kopf in die Hände gestützt, mal schwer atmend an einem Absperrgitter.
Trotzdem: «Böse Fouls gibt es eigentlich gar nicht. Es ist sehr fairer Sport», sagt Thomas Bachmann («der Bachmann Thomas»), seit zehn Jahren Kampfrichter. Kein Kampf beginnt, ohne dass sich die Gegner die Hand geben, kein Kampf endet, ohne dass der Gewinner dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken wischt. Die «Kraftprotze», wie «Müller Karl» sie nennt, begegnen sich mit sehr viel Respekt. Auch der Küssnachter Schwinger-Präsident Stefan Kaiser lobt die «Fröhlichkeit und Fairness» der Wettkämpfe.
Am frühen Nachmittag gönne ich mir noch ein Steak, da springt mir die Postkarten-Schweiz wieder direkt ins Gesicht: Das Orchester «Feldmusik Küssnacht am Rigi» spielt auf. Zuvor hatte mich bereits eine Alphornbläsergruppe beglückt. Noch kitschiger wird es, als auch noch eine Jodelband ihre Künste vorführt. Doch den Festbesuchern gefällt es – sie strömen in Scharen aufs Gelände.
«Es gibt einen richtigen Schwingfest-Boom», sagt der 79-jährige «Müller-Karl». «Die Menschen mögen das Traditionelle, das Urige.» Tatsächlich: Zum letzten Eidgenössischen Schwing- und Älperfest in Burgdorf, der grössten und wichtigsten Veranstaltung dieser Art, kamen 300'000 Zuschauer. Insgesamt wurden 80 Millionen Franken Umsatz gemacht, die Preise für die Schwinger hatten einen Gesamtwert von fast einer Million Franken.
In Küssnacht ist alles eine Nummer kleiner. Wenn man an einem streng riechenden Eintopf vorbeihuscht (kein Wunder, dass ich an diesem Tag nur Steak esse), erreicht man die Curlinghalle. Dort stehen unter anderem zwei grosse Grills, ein Rasenmäher, mehrere Fahrräder, TV-Geräte, eine Sitzecke für den Garten, ein Laubgebläse, ein Kinder-Trecker und – natürlich – viele, viele Kuhglocken. Für die richtig guten Schwinger gibt es sogar etwas noch Wertvolleres: Lebendpreise. Neben dem Bullen «König» noch zwei weitere Rinder und das Fohlen «Herkules», das mich patzig anwiehert, als ich versuche, ein Foto zu schiessen.
Den Endkampf in der zum Bersten gefüllten Arena verpasse ich dann fast. Vielleicht hat mich der beissende Geruch der Stehtoiletten für einen Moment benebelt, vielleicht ist es auch die Sonne, die mittlerweile gnadenlos auf die Haut brennt. Ich spurte in Richtung Kampfplatz und werde von einer Frau sehr unschweizerisch angepöbelt, dass bei ihr bitteschön nicht der Durchgang sei.
Trotzdem schaffe ich es rechtzeitig. Mit Mike Müllestein (der «Müllestein Mike») und Florian Ulrich (der «Ulrich Florian») stehen sich zwei Überraschungs-Finalisten gegenüber (das habe ich natürlich auch nur irgendwo gelesen). Sie schütteln sich die Hände, verhaken sich ineinander und dann geht es ganz schnell: Nach nicht einmal 20 Sekunden liegt Ulrich auf dem Rücken, Müllestein ist der Sieger. Das alles geschieht direkt vor meiner Nase – Reporterglück.
Der König der Schwinger bekommt zur Belohnung den Bullen «König». Das Wetter ist jetzt etwas schlechter geworden, allerdings zu spät, um einen massiven Sonnenbrand zu verhindern. Die Menschen gehen gut gelaunt zum Festplatz, Bier und Wein werden bestellt. Mit schlechtem Diät-Gewissen ordere ich ein weiteres Steak und schaue mich noch einmal um. Frauen in Trachten und Männer mit Schwingerhemden laufen an einer riesigen Schweizfahne vorbei, viele Herren haben noch Sägespäne in den Haaren. Auch die Alphornbläsertruppe trabt noch einmal heran.
Die Postkarten-Schweiz ist jetzt mit den Händen greifbar.
Sieger Mike Müllestein mit seinem Bullen. #Schwingen pic.twitter.com/uThwBLdAoC
— BenjaminKnaack (@BenjaminKnaack1) 26. April 2015