Drei Jahre weggesperrt wegen einer unschönen Trennung: Das ist das Schicksal eines Mannes, der in einer der unglaublichsten Tragödien der Schweizer Kriminalgeschichte in die Mühlen der Aargauer Justiz geriet, aus denen er sich erst dank dem Bundesgericht befreien konnte.
Die Geschichte beginnt im Jahr 2010, als sich seine Freundin von ihm trennen will. Der damals knapp 21-jährige Marco Meier* wird ihr gegenüber tätlich und droht ihr. Kurz darauf verliert er gegenüber seinem Rivalen die Beherrschung und versetzt ihm einen Faustschlag. Die beiden zeigen Meier an. Was dieser zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt: Am Ende seiner Odyssee durch das Schweizerische Justizsystem wird er wegen der nicht bezahlten Geldstrafen über drei Jahre in Haftanstalten und Kliniken verbracht haben und bis heute auf der Flucht sein.
Wegen einfacher Körperverletzung sowie Drohung und Nötigung verurteilt die Aargauer Staatsanwaltschaft Meier 2011 im abgekürzten Verfahren per Strafbefehl zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen. Als die zwei Strafbefehle ins Haus flattern, ist Meier im Ausland. Er zahlt nicht. Am 3. Januar 2012 werden die Geldstrafen in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt.
Meier ist ein kauziger Typ. Er spricht nicht viel, sich zu artikulieren fällt ihm schwer. So beschreibt ihn sein Anwalt gegenüber watson. Als besonders vorbildlicher Häftling fällt er nicht auf. Kurz vor Ablauf seiner siebenmonatigen Ersatzfreiheitsstrafe ordnet das Bezirksgericht Bremgarten im Sommer 2012 eine stationäre therapeutische Massnahme im Therapiezentrum Im Schache für ihn an. Kleine Verwahrung nennt man das im Justizjargon.
Widerwillig lässt Meier sich therapieren. Ein Jahr später, im Sommer 2013, verweigert das Amt für Justizvollzug des Kantons Aargau (AJV) seine bedingte Entlassung. Meier kommt vorübergehend ins Zentralgefängnis Lenzburg. Im Dezember gleichen Jahres wagt er einen neuen Anlauf und ersucht um Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme. Das AJV lehnt ab und weist Meier stattdessen in die psychiatrische Klinik Königsfelden ein. Meiers Beschwerde gegen den Beschluss lehnt das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau ab.
Es ist Sommer 2014. Meier befindet sich jetzt schon seit fast zweieinhalb Jahren in der kleinen Verwahrung. Er versucht es wieder, reicht Beschwerde in Strafsachen ein und fordert die Aufhebung der erneuten stationären Massnahme. Doch die Richter des Verwaltungsgerichts und die Oberstaatsanwälte des Kantons Aargau scheinen sich wenig für den Fall zu interessieren. Sie verzichten auf eine Vernehmlassung zu Meiers Beschwerde. Auch das Departement Volkswirtschaft und Inneres nimmt nicht Stellung, hält aber gestützt auf einen Bericht der psychiatrischen Dienste fest, dass Meier offenbar zu seiner Therapiebereitschaft zurückgefunden hat.
Meier hat nicht zu seiner Therapiebereitschaft zurückgefunden, Meier hat aufgegeben. Kurze Zeit später, bevor sich das Bundesgericht mit seinem Fall beschäftigen kann, flüchtet er zusammen mit einem weiteren Verwahrten aus der psychiatrischen Klinik Königsfelden und bricht jeglichen Kontakt zu seinem Anwalt und zu den Angehörigen ab.
Sein Anwalt hätte ihm eigentlich eine gute Nachricht mitzuteilen: Im Mai 2015, nur einen Monat nach seiner Flucht, entscheidet das Bundesgericht die sofortige Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme und kommt – mehr noch – zum Schluss, dass die nachträglich angeordnete therapeutische Massnahme bei einer in eine Haftstrafe umgewandelten Geldstrafe überhaupt nicht rechtmässig war.
«So einen krassen Fall hatte ich noch nie gesehen», sagt Meiers Verteidiger Konrad Jeker gegenüber watson. Der Solothurner Rechtsanwalt kennt sich aus im Massnahmerecht und hat schon mehrere Entlassungen aus der kleinen Verwahrung erreicht. Aber einer, der wegen einer verhältnismässig so geringfügigen Tat so lange weggesperrt wurde, das hatte selbst Jeker noch nie gesehen.
Dumm nur, dass Meier bis heute nicht weiss, dass er ein freier Mann ist. «Alle meine Versuche, ihn zu kontaktieren, schlugen fehl», sagt Konrad Jeker. Und hält mit Kritik nicht zurück: «Es handelt sich hier um eine krasse Fehlleistung der Justiz, die erst das Bundesgericht korrigierte»», sagt er, «und Meier ist nicht der Einzige». Er kenne etliche Fälle von fragwürdig in der kleinen Verwahrung versorgten Menschen. Die Fälle würden oft nicht angefochten, weil die Betroffenen keine Anwälte haben, Beschwerden praktisch aussichtslos und das Kostenrisiko für viele zu gross sei.
Zudem beurteilt er die Reaktion der Behörden auf die Flucht seines Mandanten als fragwürdig: «Diese Männer werden zunächst als psychisch schwer gestört und als so gemeingefährlich eingestuft, dass sie nicht frei gelassen werden können. Wenn sie aber flüchten, wird die Öffentlichkeit nicht einmal gewarnt», sagt er. «Damit entsteht der Eindruck, dass die Behörden ihre eigenen Beurteilungen gar nicht glauben.»
Da sein Freiheitsentzug nicht rechtmässig war, hätte Meier bei seiner Rückkehr nichts zu befürchten.
* Name von der Redaktion geändert