In der neuen Taliban-Regierung sitzt einer der meistgesuchten Männer des FBI: Siradschuddin Hakkani. Das gaben die Taliban am Dienstag bekannt. In den letzten Jahren verantwortete Hakkani mehrere Anschläge in Afghanistan und nun ist er Innenminister des Landes. Ausserdem soll er enge Beziehungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida pflegen.
Neben den Taliban halten sich mit dem «Islamischen Staat» (IS) und der Al-Kaida zwei weitere, radikal-islamistische Gruppen in Afghanistan auf. Seit der Machtübernahme fürchtet der Westen, dass die Lage vor Ort den Boden für diese Terrororganisationen ebnen wird und Anschläge wie 9/11 sich wiederholen. Was dabei häufig vergessen geht: Untereinander sind sie sich spinnefeind.
Was trennt die Taliban, den IS und Al-Kaida voneinander? Gibt es Wurzeln, die sie verbinden? Hier kommt die Antwort auf diese Fragen in vier Kapiteln.
Dieser Punkt ist schnell abgehandelt, denn gemeinsam haben die Taliban, der IS und die Al-Kaida wenig. Geeint sind sie in der fundamentalen Zurückweisung von westlichen Werten. Wie alle radikalen Islamisten lehnen sie die vom Westen geprägte, gleichberechtigte und demokratische Ordnung mit Wahlen und Abstimmungen ab.
Als Grundlage ihres politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns dient die Scharia, das islamische Recht. Allerdings ist die Scharia kein in Gesetzesbüchern festgeschriebenes Werk. Vielmehr handelt es sich um ein Gemisch von Rechtsvorschriften, die aus der islamischen Überlieferung von Koran und Sunna, also islamischen Bräuche und Sitten, abgeleitet werden. Entsprechend unterschiedlich wird die Scharia von den verschiedenen Gruppen ausgestaltet.
Strenge Kleidervorschriften, das Verbot, Musik zu hören oder die Form des Zusammenlebens: Der Ideologie nach scheinen die Taliban, Al-Kaida und der IS ähnlich zu sein, doch der Augenschein trügt.
Insbesondere der IS und die Taliban gründen auf vollkommen unterschiedlichen Interpretationen der islamischen Religion, erklärt Reinhard Schulze. Er ist Professor für Islamwissenschaft und Direktor des Forums Islam und Naher Osten der Universität Bern. Die Unterschiede seien so fundamental, dass sie gar Erzfeinde sind: «Für den IS sind die Taliban Abtrünnige, Ungläubige und müssen getötet werden», sagt Schulze.
Die Taliban sind sunnitische Muslime und sie vertreten eine streng orthodoxe Lehre. Ihrer Auffassung nach erreicht ein Mensch das religiöse Heil – die Erlösung –, indem er in einer moralisch guten Gemeinschaft lebt. Die Gemeinschaft stellt also sicher, dass der Einzelne ins Heil gelangt und gleichzeitig ist jeder Einzelne für die Gemeinschaft verantwortlich.
Islamwissenschaftler Schulze erinnert an Vorschriften aus der Taliban-Herrschaft von 1996: «Wenn man zulässt, dass Leute im Auto Radio hören, dann würde man die Vorstellung einer moralischen Gemeinschaft verletzen», erklärt Schulze. Entsprechend haben die Taliban eine radikal puritanische Deutung: Sie kontrollieren die Form des Zusammenlebens durch ihre Sittenordnung.
Dabei interpretieren die Taliban die Regeln der Paschtunen, dem Volk, dem die Taliban mehrheitlich angehören, als Scharia. Die Paschtunen verfügen über ein sehr altes Sittengesetz, das die Taliban bewahren wollen. Es schreibt beispielsweise vor, dass sich Frauen in der Öffentlichkeit zu verhüllen haben.
Die Religionsvorstellungen des IS gehen hingegen viel weiter. «Der IS hat komplett neue Regeln geschaffen, die es bislang im Islam so nicht gegeben hat», sagt Schulze. Die Terrormiliz sei nicht bloss orthodox, sondern ultrareligiös: «Für den IS muss der Mensch, der einzelne Gläubige, seine Religion zeigen und bewahrheiten, indem er beispielsweise die Feinde Gottes bekämpft. Er muss sie angreifen, wo er sie trifft. Und wenn er das tut, erhält er als Individuum eine Heilsgewissheit.»
«Gottesfeinde» sind für den IS nicht bloss Anders- oder Ungläubige, sondern auch Musliminnen und Muslime, die eine andere Lehre befolgen. Damit bekämpfen sie auch die Taliban. Das zeigte sich beim Bombenanschlag in Kabul vor zwei Wochen, zu dem sich eine IS-Splittergruppe, «ISIS-K», bekannte.
Der IS beruft sich teils auf die Lehren des Wahhabismus, dessen Verfechter für sich beanspruchen, als einzige die islamische Lehre authentisch zu vertreten. Der Wahhabismus war lange Zeit eine Art Staatsreligion in Saudi-Arabien und inspirierte Osama bin Laden damals beim Aufbau seiner Al-Kaida.
So teilen die Al-Kaida mit dem IS gewisse Anschauungen, «aber sie sind heute weniger radikal und verstehen sich nicht als transnationales Kalifat», sagt Islamwissenschaftler Schulze. Hier muss man etwas vorgreifen, um zu verstehen: Der IS ist aus einem Ableger der Al-Kaida im Irak hervorgegangen. Schon bevor der IS aktiv war, verübten Al-Kaida-Terroristen weltweit Anschläge mit dem Ziel, «Gottesfeinde» zu bekämpfen.
Ein weiterer grosser Unterschied zwischen den drei Terrorgruppierungen gibt es bei ihren Kampfzonen. Die Taliban wollen ein «Afghanistan First»: Ihr Einflussgebiet beschränkt sich auf Afghanistan und grenznahe Zonen in Pakistan. Und das wird auch so bleiben, sagt Islamwissenschaftler Schulze. «Die Taliban haben kein Interesse daran, ihre sehr afghanische Interpretation des Islam über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen.»
Die Al-Kaida und der IS beziehen sich hingegen nicht auf ein bestimmtes Land, sie verfolgen so etwas wie einen globalen Glaubenskrieg, Dschihad genannt. Zwar kontrollierte der IS ab 2014 Gebiete im Irak und Nordsyrien und errichtete dort ein sogenanntes Kalifat, in dem eine beispiellose Schreckensherrschaft errichtet wurde.
«Letztlich geht es dem IS nicht um eine dauerhafte Herrschaft», erklärt Schulze. Sein Ziel sei es bis heute, einen Entscheidungskampf mit der ungläubigen Welt herbeizuführen und das «Gottesgericht» soll dann entscheiden, auf welcher Seite die «göttliche Wahrheit» stehe. «Besonders beim IS sieht man damit die klassischen Merkmale einer endzeitlichen Sekte», so Schulze.
In ihren Anfängen sei das bei Al-Kaida ähnlich gewesen, sagt Schulze. Heute hätten sie sich etwas von dieser Tradition abgewandelt. «Gleichzeitig ist seit der Trennung vom IS im Jahr 2013 nicht klar, in welche Richtung der Wandel geht.» Al-Kaida habe seither wenig Profil nach aussen gezeigt. Die wenigen Erklärungen und Texte von ihnen geben nicht ausreichend Auskunft. Einem UN-Bericht vom Februar 2021 zufolge, ist Al-Kaida sehr geschwächt. Ihre Anzahl Mitglieder wird auf 200 bis 500 geschätzt.
Im Gegensatz zu Al-Kaida und dem IS wurzeln die Taliban in der Landbevölkerung. Ihre ersten Mitglieder waren paschtunische Flüchtlinge sowie Veteranen des Krieges gegen die Sowjetunion.
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen Anfang der 90er herrschte in Afghanistan das Gesetz des Stärkeren. Sich rivalisierende Gruppen bekriegten sich, geltende Gesetze gab es keine. In diesem Klima gediehen die Taliban und wuchsen zu einer dominanten Gruppierung in Afghanistan heran. 1996 nahmen sie Kabul ein und riefen das Islamische Emirat Afghanistan aus.
Auch Al-Kaida wurde im Rahmen des Krieges gegen die sowjetische Armee geboren. Ihr Gründer Osama bin Laden unterstützte den Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans. Später, im Jahr 1988, gründete er in Pakistan Al-Kaida, was übersetzt «die Basis» heisst. Ihr Kampf galt den «Feinden Gottes», ihr Ziel war ein Dschihad.
Zu Beginn war Al-Kaida eine Ansammlung aus arabischen Kriegsveteranen. Später wurde es zu einem international agierenden Netzwerk, fand in arabischen, westafrikanischen und südostasiatischen Ländern Anhänger und gründete Ableger – einer davon im Irak, aus dem der IS hervorging.
Der IS war Folge eines Feldzuges der Amerikaner im Irak im Jahr 2003. Frustrierte Soldaten des ehemaligen Regimes von Saddam Hussein und fanatische Islamisten im Land fanden zusammen. Der IS hat eine transnationale Perspektive und versteht sich als globale Bewegung. Noch stärker als vor ihm Al-Kaida zog der IS Anhänger aus zahlreichen Ländern an. Dank den sozialen Medien konnte er viele muslimische Secondos für sein Anliegen begeistern und rekrutieren.
Wegen seines «Alleinvertretungsanspruches» konkurriert der IS mit den Taliban. Die beiden haben nie miteinander kooperiert – ganz im Gegensatz zu Al-Kaida.
In den 90er-Jahren – als es den IS noch nicht gab – gewährten die Taliban Al-Kaida ein Gastrecht. «Nach dem paschtunischen Sittengesetz ist das absolut heilig», erklärt Schulze. Wem man das Gastrecht gibt, den muss man auch verteidigen. Dieser Kodex sei bei den Taliban sehr hoch angesiedelt.
Das Gastrecht entstand während dem Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetunion in den 80er-Jahren. «Die Paschtunen haben damals andere arabische Stämme in Afghanistan, darunter auch spätere Al-Kaida-Angehörige, als Gäste anerkannt. Die Taliban haben das quasi geerbt», sagt Schulze.
Schulze erklärt sich dadurch, warum sich die Talibanführung in den 90er-Jahren weigerte, Osama bin Laden an die USA auszuliefern. In der Folge kam es dann zum Bruch zwischen der US-Regierung und den Taliban. Bin Laden wurde damals von Washington beschuldigt, als Chef der Al-Kaida für die Anschläge gegen US-Ziele verantwortlich zu sein. «9/11» stand zu diesem Zeitpunkt noch bevor. Die Taliban hätten im Jahr 2000, noch bevor die USA intervenierte, versucht, sich von Al-Kaida zu trennen, sagt Islamwissenschaftler Schulze.
«Al-Kaida haben in den Augen der Taliban das Gastrecht ausgenutzt und sich nicht an die Regeln gehalten. Heute sagen wichtige Talibanführer, dass sie mit Al-Kaida nichts mehr zu tun haben wollen.» Einer unter ihnen sieht das jedoch anders: Siradschuddin Hakkani, der kürzlich von den Taliban ernannte Innenminister. Berichten zufolge ist er bis heute mit Al-Kaida verbandelt und befreundet. Schulze bestätigt das und sagt dazu: «Das spiegelt eine tiefgreifende Differenz innerhalb der Führung des Emirats.»