Den Grünen könnte es kaum besser laufen. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass sie sich bei den Wahlen in zwei Wochen als grosse Sieger feiern lassen dürfen. Das Klima spielt ihnen in jeder Hinsicht in die Hände – politisch und atmosphärisch. Und nun dürfen sie im Schlussspurt des Wahlkampfs einen illustren Gast begrüssen, der die Politik in Deutschland aufmischt.
Robert Habeck wurde im Januar 2018 gemeinsam mit Annalena Baerbock an die Spitze der deutschen Grünen gewählt. Erstmals in ihrer turbulenten Geschichte wird die Partei von zwei «Realos» geführt. Seither erlebt sie einen Höhenflug und kommt bei Wahlen und in den Umfragen auf Werte, von denen ihre Schweizer Schwesterpartei nur träumen kann.
Im jüngsten ZDF-Politbarometer liegen die Grünen mit 27 Prozent gleichauf mit CDU/CSU und deutlich vor allen anderen Parteien. Damit rückt ein vor wenigen Jahren noch absurdes Szenario in Reichweite: Die Grünen könnten den nächsten Bundeskanzler stellen. Und dieser würde wohl Robert Habeck heissen: Umfragen zeigen, dass viele Deutsche sich damit anfreunden können.
Der 50-Jährige Lübecker ist kein «Bürgerschreck» wie der einstige Frankfurter «Sponti» Joschka Fischer, der das Format für das Kanzleramt gehabt hätte, von den Deutschen aber mehrheitlich abgelehnt wurde. Habeck hat Philosophie studiert, war Schriftsteller und Umweltminister in Schleswig-Holstein. Nun kommt er in die Schweiz, ins «Exil» nach Zürich.
Gemeint ist der gleichnamige Club neben der Hardbrücke im Kreis 5 beim Schiffbau. Dort wird Robert Habeck am Samstagabend an einer «offenen Debatte» mit Grünen-Präsidentin Regula Rytz teilnehmen. Die Berner Nationalrätin konnte ihre Vorfreude bei einer zufälligen Begegnung diese Woche kaum verbergen. Sie kenne seinen Vorgänger Cem Özdemir sehr gut, Habeck bislang aber nicht.
Am Sonntagvormittag folgt ein Gespräch mit «Republik»-Autor Daniel Binswanger im Schauspielhaus. Es ist der Abschluss einer Art Europatour, die Robert Habeck diese Woche nach Brüssel, Paris und Rom führte. Ein Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wurde wegen «Terminproblemen» verschoben, doch Mitglieder seiner Regierung empfingen ihn sehr freundlich.
Der deutsche Grünen-Chef wird definitiv in Europa wahrgenommen. Dafür sorgte nicht zuletzt das Topergebnis der Partei bei der Europawahl im Mai. Aber hat Habeck das Zeug zum Kanzler? Der seit 1996 verheiratete Vater von vier Söhnen will von solchen Spekulationen nichts wissen. Die Grünen müssten sich darauf konzentrieren, konstruktive Oppositionspolitik zu betreiben.
Zweifel an seinem Format kamen auf, als er sich kürzlich in einem Interview mit der «Tagesschau» einen groben Patzer leistete. Habeck wusste nicht, dass die Pendlerpauschale in Deutschland nicht nur für Autos, sondern für alle Verkehrsmittel gilt. Das ist vielleicht kein Zufall: Habeck gilt als Mann für die grossen Linien, während die Co-Vorsitzende Baerbock die Detailarbeit erledigt.
So Freunde, wer erklärt Robert Habeck jetzt das mit der Pendlerpauschale? 😫 pic.twitter.com/YcUc93aW5A
— Marian Bracht 🇪🇺 (@MarianBracht) September 22, 2019
Letztes Jahr sorgte Habeck für Furore, als er sich von Facebook und Twitter abmeldete. Anlass war ein Video, in dem er sagte: «Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land.» Die Kritik an dieser Aussage war massiv. Habeck gab zu, der harte Ton auf Twitter färbe auf ihn ab. Deshalb der Totalrückzug.
Die Grünen sind in Deutschland auf dem Weg zur Volkspartei. Sie profitierten nicht zuletzt von der Schwäche der SPD, neben der sie nach wie vor unverbraucht wirken. Bestes Beispiel ist die fast schon quälende Suche der Sozialdemokraten nach einer Doppelspitze für den Parteivorsitz. Egal wer das Rennen macht, sie werden neben Habeck/Baerbock blass aussehen.
Der populärste Politiker Deutschlands ist ebenfalls ein Grüner. Er heisst weder Merkel noch Habeck, sondern Winfried Kretschmann. Der 71-jährige Ministerpräsident von Baden-Württemberg liegt im ZDF-Politbarometer klar an der Spitze. Seine Partei kommt in den jüngsten Umfragen im einst tiefschwarzen Bundesland an der Schweizer Grenze auf sagenhafte 38 Prozent.
Das sind die Werte einer Volkspartei. Um auch bundesweit als solche zu gelten, muss sie aber vor allem im Osten zulegen, trotz zuletzt ermutigender Ergebnisse bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen. Robert Habeck ist im Sommer durch die östlichen Bundesländer gereist und hält sich mit seiner Meinung über bestimmte Personen nicht zurück.
Es scheint, dass die Realos den ewigen Richtungsstreit bei den deutschen Grünen für sich entschieden haben. Für einen Triumph bei der nächsten Bundestagswahl fehlt jedoch einiges. Eine Umfrage des «Spiegel» zeigt, dass die Grünen immer noch als Einthemen-Partei wahrgenommen werden. Als kompetent gelten sie nur in ihrem «Kerngeschäft», der Umweltpolitik.
Es könnte also dauern, bis Robert Habeck ins Kanzleramt neben der Schweizer Botschaft in Berlin einziehen kann. Und vielleicht kommt ihm seine Co-Vorsitzende in die Quere. Die 38-jährige Annalena Baerbock hat eine Kanzlerkandidatur nie explizit ausgeschlossen.
Die Zitate im Text stammen aus einem Interview mit Robert Habeck, das unsere Kollegen von watson.de diese Woche veröffentlicht haben. Hier das Gespräch in voller Länge:
Nicht wenn Böhmermann das Rennen macht!
#neustart19