Götterdämmerung ist ein Begriff aus der nordischen Mythologie und Richard Wagners Opernwelt und steht für den heraufziehenden Untergang. Für Drama. Zug hat sieben Playoffserien hintereinander und zwei Titel gewonnen. Geht diese Serie nun gegen Servette zu Ende, dann ist es ein Hockey-Drama.
Servette hat zum ersten Mal in seiner Geschichte die Qualifikation gewonnen. Die Genfer sind so selbstsicher wie noch nie und dominieren im Halbfinal die Zuger. In vier Partien sind es 133 zu 116 Abschlüsse. Sie stürmen so präzis und mutig und wagen es, die gegnerische Mannschaft frontal zu attackieren. Will heissen: Sie ziehen sich kaum je ins Réduit der neutralen Zone zurück, um die gegnerischen Angriffe aufzufangen und dann aus der Tiefe des Raumes zu kontern. Sie verlagern ihr Spiel ganz nach vorne rund ums gegnerische Tor. Dort versuchen sie mit intensiver Störarbeit («Forechecking») das gegnerische Spiel gleich an der Wurzel zu packen. Keine andere Mannschaft der Liga spielt so spektakulär und mutig vorwärts.
Eine riskante Variante. Gelingt es dem Gegner, die Scheibe auch unter Druck zu behaupten und sich schnell zu lösen, dann können die Konter «tödlich» sein. Die Lakers haben es im Viertelfinal auf bittere Art und Weise erfahren. Sie haben Zug auch dominiert. Aber sie waren nur Zauberlehrlinge und eine «Operetten-Version» von Servette.
Den Titelverteidiger in seinem Stadion mit dieser Taktik herauszufordern, braucht ein Höchstmass an Mut, Talent, Kraft, Konzentration, Spielorganisation und Selbstvertrauen. Aber es ist eine erfolgreiche Taktik: Die Zuger haben am Donnerstagabend grösste Mühe, unter dem permanenten gegnerischen Druck ihr Spiel zu ordnen und zu entfalten. Sie verlieren mehr Zweikämpfe in ihrer eigenen Zone als vor einem Jahr während den sieben Finalpartien gegen die ZSC Lions. Das mag nun etwas übertrieben sein. Es gibt auch keine offizielle Statistik, um diese Behauptung zu belegen. Aber gefühlt ist es so. Und eine der Ursachen, warum offensive Titanen wie Jan Kovar, Grégory Hofmann und Dario Simion in vier Partien gegen Servette noch keinen einzigen Skorerpunkt gebucht haben. Keinen einzigen! Gegen die Lakers haben sie im Viertelfinal in sechs Partien neun Tore erzielt. Götterdämmerung.
Und nun zu zwei vielleicht entscheidenden Faktoren im Halbfinal: Zugs Ausländer haben in den vier Halbfinalpartien gerade mal 6 Punkte (2 Tore) beigesteuert. Servettes «Imports» produzierten in den vier Halbfinalpartien bisher 15 Punkte (5 Tore). Servettes Torhüter Robert Mayer hat im Halbfinal die bessere Fangquote (94,78 Prozent) als Leonardo Genoni (93,94 Prozent).
Servette hat also statistisch die produktiveren Ausländer und den besseren Goalie als der Meister. Götterdämmerung. Es ist Zeit, das Undenkbare zu denken: Leonardo Genoni verliert erstmals seit 2018 (mit dem SCB im Halbfinal gegen die ZSC Lions ausgeschieden) eine Playoffserie. Gegen Robert Mayer. Den Torhüter, den die Davoser letzte Saison nicht mehr wollten und aus einem laufenden Vertrag erst nach Langnau und dann nach Genf abgeschoben haben.
Alles klar? Nein. Für Zug gelten zwei Weisheiten, die im nordamerikanischen Sport in scheinbar aussichtslosen Situationen hervorgekramt werden.
Die Zuger haben sieben Playoffserien hintereinander und zwei Meisterschaften gewonnen. Sie holten vor einem Jahr den Titel gegen die ZSC Lions nach einem 0:3-Rückstand im Final. Sie sind mit Leonardo Genoni im Tor in den Playoffs noch nie gescheitert. Sie sind Champions.
Werden sie weiterhin Champions sein? Das wird sich in den nächsten Tagen zeigen. In dieser wegweisenden vierten Partie haben sie mit dem Herz eines Champions gespielt: Sie haben alle Schwierigkeiten überwunden, mit dem Beistand der Götter zum 2:2 ausgeglichen (der Puck prallte von der Bande ans Torgehäuse und von Robert Mayers Rücken schliesslich ins Tor) und in der Verlängerung standen sie dem Sieg näher. Und trotzdem verloren sie. Götterdämmerung.
Sage mir, wie es Dan Tangnes nach einem Spiel geht und ich sage dir, wie es um Zug steht. Nur ganz wenige Trainer treten nach einer Partie so authentisch und souverän auf wie der Norweger. Vor einem Jahr, bei der wundersamen Wende im Final war er der unerschütterliche, inspirierende Leitwolf der Zuger. Selbst beim Stande von 0:3 blieb er tiefenentspannt und die Dämonen des Zweifels wagten sich nicht in seine Nähe.
Am Donnerstagabend ist er nach der bitteren Verlängerungsniederlage souverän wie immer. Aber auf eine sympathische Art und Weise wirkt er nachdenklich, ja fast verletzlich. Aber nicht verunsichert und zweifelnd.
Er verzichtet auf die in solchen Situationen üblichen Sprüche und Ausreden. Er geht auf Fragen ein und beschönigt nichts. Er spricht unter anderem über die durchzogene Qualifikation. Über die Schwierigkeiten, die zwischen September und März zu überwinden waren. Über den verlorenen «flow» des Spiels (den Verlust der spielerischen Leichtigkeit), diese Fähigkeit der Spieler, instinktiv das richtige zu tun.
Er vertraut trotz allem seinen Spielern. Das Quartett Jan Kovar, Dario Simion, Grégory Hofmann und Fabrice Herzog, das die Lohnbuchhaltung pro Saison wohl gut und gerne mit zwei Millionen Franken belastet, hat im Halbfinal noch kein einziges Tor und bloss einen Assistpunkt beigesteuert. Der Trainer könnte sich mit Fug und Recht eine kritische Anmerkung leisten. Dan Tangnes sieht dieses Versagen positiv. Als noch nicht ausgeschöpfte Reserve.
Die Zuger haben nach wie vor die Herzen eines Champions. Ja, sie können es noch schaffen. Was, wenn Leonardo Genoni beschliesst, doch den Final zu erreichen? Unterschätze nie das Herz eines Champions!
Aber die Zuger haben nicht mehr das unerschütterliche, schier magische Selbstvertrauen eines Champions, das sie im Final vor einem Jahr beseelt hat. Götterdämmerung.