Digital
Analyse

Verschleppte ukrainische Kinder: Russische Kriegsverbrechen aufgedeckt

epa10526974 People react as they attend a commemorative rally to mark the first anniversary of the bombing of the Mariupol Drama Theatre, in front of the National Opera of Ukraine in Kyiv (Kiev), Ukra ...
Stiller Protest in Kiew gegen russische Kriegsverbrechen in der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol. Nun gibt es neue Beweise zu systematischen Kindesentführungen. Bild: keystone
Analyse

Die verschleppten Kinder der Ukraine – Hacker decken russische Kriegsverbrechen auf

Böse Überraschung für russische Kollaborateure, die an der Entführung von ukrainischen Kindern in Mariupol beteiligt waren. Hacker haben im grossen Stil verräterische Daten erbeutet und weitergegeben.
07.09.2023, 05:0007.09.2023, 16:36
Mehr «Digital»

Mychajlo Podoljak, einer der engsten Berater des ukrainischen Präsidenten, brachte es in einem ZDF-Interview auf den Punkt: Wenn ein Land auf das Gebiet eines anderen Landes komme und dort Zivilisten töte, müsse das Konsequenzen für die Täter haben. «Jeder Kriminelle, ob Soldat oder nicht, muss auf die Anklagebank gesetzt werden können.»

Das Gleiche gilt für die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Besatzer und Kollaborateure. Beim Aufdecken solcher Fälle spielen ukrainische Hacker eine zentrale Rolle.

So ist es gemäss neueren Berichten einer Gruppe Freiwilliger gelungen, umfassende Beweise für systematische Kindesentführungen aus der Ukraine und die Täter dahinter zu finden. Die Gruppe nennt sich KibOrg. Es sind ukrainische Journalistinnen und Journalisten und IT-Fachleute.

Zu ihren Zielen erklären die ehrenamtlich arbeitenden Aktivistinnen und Aktivisten:

«Wir untersuchen die Verbrechen der Russen in der Ukraine, decken die Aktivitäten von Kollaborateuren auf und entlarven russische Fälschungen.»
quelle: kiborg.news

Zum KibOrg-Team gehörten Hacker, «die Informationen von den Computern der Besatzer extrahieren». Darüber hinaus verwende man verschiedene Online-Ermittlungstechniken, um Daten zu überprüfen und Analysen zu erstellen.

Um was für Daten zu verschleppten Kindern handelt es sich?

KibOrg konnte die im Auftrag des russischen Staates betriebene Datenbank «Kinder des Donbass» auswerten.

Man habe mehr als ein halbes Terabyte an Daten über zehntausende verschleppte Kinder sichern und an ukrainische Strafverfolgungsbehörden übergeben können.

Dieses Beweismaterial wird laut Bericht auch in das Strafverfahren des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag einbezogen: Bereits Anfang 2023 wurden Haftbefehle gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und die «Beauftragte für Kinderrechte», Maria Lvova-Belova, erlassen.

KiBorg konnte über die Auswertung öffentlich verfügbarer Informationen im Internet – das nennt man Open Source Intelligence, oder kurz OSINT – dutzende Organisatoren und Personen ermitteln, die für die Verschleppung von Kindern nach Russland verantwortlich seien. Darunter habe es etliche ukrainische Kollaborateure, die seit 2014 in den besetzten Gebieten mit russischen Behörden kooperierten.

Dazu kommentiert ein X-User:

«Wir wissen aus unserer Geschichte: auch der grausamste Diktator kann seine Verbrechen nicht allein begehen. Er braucht Mittäter und Profiteure, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Schreibtischtäter, die am runden Tisch die Vernichtung eines Staates und Volkes planen.»
quelle: twitter.com

Warum werden ukrainische Kinder verschleppt?

Es gibt mehrere Gründe.

  • Das Regime in Moskau unter Führung von Wladimir Putin will den ukrainischen Staat und dessen demokratische Strukturen vernichten.
  • Kinderlosen Paaren in Russland und in den besetzten ukrainischen Gebieten oder solchen, die mehr Nachwuchs wollen, ist offenbar jedes Mittel recht.
  • In verschiedenen Fällen geht es auch um persönlichen Profit: Kollaborateure verschaffen sich Vorteile. So soll etwa auf das Erbe von Waisenkindern abgezielt worden sein.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fand jedenfalls deutliche Worte:

«Die Deportation ukrainischer Kinder ist eines der komplett vorsätzlichen Elemente von Russlands Versuch, die Identität unseres Volkes auszulöschen und das Wesen der Ukrainer auszulöschen.»
quelle: euronews.com

Im April dieses Jahres entschied der Europarat, dass die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland Anzeichen eines Völkermordes aufweist. Das Kreml-Regime streitet die durch Schilderungen von Betroffenen dokumentierte Vorgehensweise aber nach wie vor ab und behauptet, die Kinder lediglich aus Kriegsgebieten evakuiert zu haben.

Auch schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges seien Kinder aus Heimen und Pflegeeinrichtungen entführt worden, hat hingegen die Parlamentarische Versammlung des Europarates offiziell festgehalten.

Wie die 15-jährige Nastia ihren russischen Entführern entkam
Das Online-Medium derstandard.at schildert in einer am 18. August veröffentlichten Reportage den Fall einer jungen Ukrainerin, die aus der von Russland besetzten Südukraine frei kam und heute in der Hauptstadt Kiew lebe. Gerade mal um die 300 entführte Kinder hätten es zurück auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geschafft, heisst es. Denn hinter der Verschleppung stecke «ein weitverzweigtes System aus Lagern und Heimen sowie administrativen Massnahmen», die die Nachverfolgung erschwerten.

Die 15-Jährige sei am 4. November 2022 auf dem Heimweg von einer Geburtstagsfeier in eine russische Kontrolle nahe der damals noch besetzten Stadt Cherson geraten und mitgenommen worden. Daraufhin sollte sie in einem Lager mit anderen entführten Kindern «russisch-patriotisch indoktriniert werden». Durch eine glückliche Fügung des Schicksals kam sie frei. Die genauen Umstände werden nicht verraten, jedenfalls konnte die leibliche Mutter das Mädchen abholen (siehe Quellen).

Verschleppte Kinder zu finden, sie gar zurückzuholen, sei ein Knochenjob, heisst es im Bericht. Das ukrainische Rettungsnetzwerk Save Ukraine arbeite daran. Einmal adoptiert, sei eine Rettung so gut wie unmöglich.

Mit der Invasion im Februar 2022 nahmen die Kindesentführungen massiv zu. Auf direkte Anweisung des russischen Despoten Putin gingen die Besatzer systematisch vor, um möglichst viele Minderjährige zu entwurzeln.

In einigen Fällen wurden auch gezielt Kinder zu Waisen gemacht, entweder durch Ermordung oder Inhaftierung der Eltern, um die Kleinen mitnehmen zu können.

Für verschleppte ukrainische Kinder, die sich gegen die Adoption und Umerziehung zu Russen wehrten, organisierte Lvova-Belova mit dem Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow militärische Jugendlager in Tschetschenien, die einen «militärisch-patriotischen Wandel» herbeiführen sollten.

Anzumerken bleibt, dass die Zwangsumsiedlung von Kindern ein Kriegsverbrechen ist. Und Kriegsverbrechen verjähren nicht.

Warum hilft die russische Kinder-Datenbank nun den Opfern?

Dank der von Hackern erbeuteten Datenbank können die Verantwortlichen in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine – hier Mariupol – identifiziert und verfolgt werden.

Die Aktivisten stellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der «Abteilung für Familie und Kinder» im besetzten Mariupol an den Pranger.
Die Aktivisten stellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der «Abteilung für Familie und Kinder» im besetzten Mariupol an den Pranger.screenshot: kiborg.news / verpixelung: watson

Im März 2023 gab Maria Lvova-Belova, Beauftragte für Kinderrechte unter dem Präsidenten der Russischen Föderation, bekannt, dass die besetzte Region Donezk die erste der annektierten Regionen sein werde, die an die staatliche russische Kinder-Datenbank angeschlossen werde.

Die Hauptfunktion dieses Systems sei die Speicherung und Verarbeitung von Daten aller ohne elterliche Fürsorge zurückgebliebenen Kinder und Waisen sowie die Registrierung russischer Familien, die Kinder adoptieren möchten.

Zugriff auf die russische Datenbank haben gemäss Bericht nur einzelne Fachkräfte, die direkt vom «Staatlichen Dienst für Familie und Kinder» (DSSSD) benannt werden.

Um Informationen abzurufen, sei eine spezielle Software erforderlich, die zusätzlich einen individuellen Benutzernamen sowie ein individuelles Passwort erfordere.

Dies habe die Hacker nicht abhalten können. So habe das KibOrg-Team die vollständige Datenbank erhalten, «dank patriotischer Bürger, die ihr Leben riskierten, um die Verbrechen der Russen zu dokumentieren», wie es heisst.

«Die im System enthaltenen Informationen sind von ausserordentlichem Wert bei der Suche nach Kindern, die aus der besetzten Region Donezk verschleppt wurden.»

Wegen der Sensibilität der Informationen werden keine Angaben zu den betroffenen Minderjährigen und ihren Angehörigen öffentlich zugänglich gemacht. Als Beweis haben die Menschenrechts-Aktivisten jedoch Screenshots aus der Datenbank «Kinder des Donbass» zur Verfügung gestellt.

Die Dokumentation aus dem von den Russen besetzten Mariupol, einer ukrainischen Stadt mit fünf Verwaltungsbezirken, werde «viel über systematische Verbrechen gegen die Rechte ukrainischer Kinder erzählen», so KibOrg.

Auf der Website des Recherche-Kollektivs ist eine sehr lange Liste mit mutmasslichen Täterinnen und Tätern aufgeführt. Viele Personen werden mitsamt Foto gezeigt. Und alle Daten können für weiterführende Untersuchungen über die Website der Vereinigung heruntergeladen werden.

Quellen

ZDF-Doku zum Thema: «Deportiert und zwangsadoptiert – die verschwundenen Kinder von Cherson»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das schreibt die Presse zu Butscha
1 / 14
Das schreibt die Presse zu Butscha
«La Repubblica», Italien: «Der Horror von Butscha».
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Arnold Schwarzeneggers starke Botschaft gegen Hass und Antisemitismus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
52 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
banda69
07.09.2023 05:47registriert Januar 2020
Und der subventionierte Kleinverleger und Russland Freund Roger Köppel (SVP Spitzenpolitiker) stellt Putin als empathischen Kinderfreund dar.

Und ja. Wer SVP wählt, unterstützt den Kriegsverbrecher Putin.

Quelle: https://weltwoche.ch/daily/er-ist-wie-ein-vater-russlands-kinderbeauftragt-lwowa-belowa-ueber-einen-starken-aber-auch-empathischen-praesident-putin/
Bild
21316
Melden
Zum Kommentar
avatar
DanielBS61
07.09.2023 05:41registriert Oktober 2016
Was sind das für empathielose Kreaturen, die so etwas machen…
1344
Melden
Zum Kommentar
avatar
Glücklich
07.09.2023 06:13registriert August 2022
Der Krieg bringt wirklich die hässlichste Seite des Menschen hervor. Folter, Vergewaltigung, Entführung, es scheint als ob keine nur kleinste Empathie bei diesen Verbrechern vorhanden ist.

Kinder sind meines Erachtens die grössten Opfer eines Krieges. Sie verlieren Ihre Kindheit und diese ist durch nichts wieder zubringen, es macht mich als Vater unendlich traurig.

Ich hoffe, dass alle diese Verbrecher zur Verantwortung gezogen werden können.

Ich wünsche mir Frieden auf Erden und leider weiss ich, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird.
1205
Melden
Zum Kommentar
52
Erstmals erhält ein Auto im ADAC-Test die Note «sehr gut» – die Ehre gebührt einem E-Auto
Noch nie bekam ein Auto im ADAC-Autotest das Prädikat «sehr gut», sprich die Höchstnote. Diese Premiere gelang nun einem Elektroauto.

Jedes Jahr prüft der deutsche Verkehrsclub ADAC rund 100 Autos auf Herz und Nieren. Jetzt gibt es das erste «sehr gute» Auto im Test: den VW ID.7 Pro mit einer Gesamtnote von 1,5 (Urteil: «sehr gut»). Bislang lagen drei Autos mit der Gesamtnote 1,6 («gut») auf den Spitzenplätzen: BMW iX xDrive50 (getestet im April 2022), Mercedes EQS 450+ Electric Art (Februar 2022) und der Skoda Enyaq 85x L&K (März 2024).

Zur Story