Sport
Aargau

Mit Parkour wollen die Turner wieder mehr Städter in die Vereine bringen

epa06946766 Young people practice their skills on the Parkour course of the former coking plant 'Zeche Zollverein' industrial complex in Essen, Germany, 12 August 2018, which is an UNESCO Wo ...
Parkour-Training in Essen: Das akrobatische Herumspringen ist mittlerweile anerkannter Sport.Bild: EPA

Mit Parkour wollen die Turner wieder mehr Städter in die Vereine bringen

Am Donnerstag beginnt in Aarau das 76. Eidgenössische Turnfest. An gleicher Stelle, wo es 1832 erstmals stattfand. In den seither vergangenen fast 200 Jahren wurde das Turnen zu einem Stück Schweiz. Doch es rutschte Ende der 90er-Jahre in eine schwere Krise. Wo steht es heute?
11.06.2019, 21:14
Sébastian Lavoyer / Aargauer Zeitung
Mehr «Sport»

Der Höhenflug war beispiellos. Kinder, Väter und Mütter, selbst Grosseltern – alle turnten sie. Die Schweiz, eine Nation von Turnerinnen und Turnern. Mitte der 90er-Jahre zählte der Schweizerische Turnverband (STV) mehr als 500'000 Mitglieder, mehr als sieben Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung. Kein anderer Sportverband war je erfolgreicher. Zugleich aber schlitterte der STV in eine ernsthafte Krise.

Die Zeitung «Sport» titelte am 21. Mai 1997: «Millionenloch beim Turnverband – die Mitglieder müssen zahlen». Und er schrieb von zwei Millionen Franken, die zwischen 1995 und 1997 fehlten, zu geringer Eigenkapitaldeckung, steigenden Jahresbeiträgen und drohenden Verlustzahlungen für das Eidgenössische Turnfest aus dem Jahr 1996 in Bern. 800'000 Franken Verlust fuhren die Veranstalter damals ein, sechs Jahre später im Baselbiet endete das Eidgenössische mit ähnlich trister Bilanz. Zugleich schrumpften die Mitgliederzahlen bis runter «auf um die 360'000», wie Ruedi Hediger, Geschäftsführer des Turnverbandes, sagt. Der Trend hielt an bis kurz vor dem letzten Turnfest in Biel.

ARCHIVE --- DAS EIDGENOESSISCHE TURNFEST FINDET DIESES JAHR VOM 13. BIS AM 23. JUNI IN AARAU STATT. DIE STADT AARAU IST BEREITS ZUM SIEBTEN MAL GASTGEBER DES GROESSTEN BREITENSPORTANLASSES IN DER SCHW ...
So sah es früher aus: 12'000 Sportler turnen 1972 in Aarau gemeinsam.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die negative Entwicklung bei den Mitgliederzahlen der Turner widerspiegelt sich auch an der Anzahl Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Eidgenössischen Turnfesten. Bis 2007 in Frauenfeld fielen sie um fast 20'000 auf 56'000 Teilnehmende. Zugleich aber gelang der finanzielle Turnaround. Eine Million Gewinn setzte das Fest 2007 ab. Die Talsohle war durchschritten. Seither stiegen sowohl die Mitgliederzahlen beim Turnverband (heute um die 380'000) als auch die Anzahl Teilnehmer am Turnfest (für Aarau 2019 rund 68'500; Stand vom letzten Freitag).

Turnen drohte aus der Zeit zu fallen

Natürlich, die Finanzen waren nicht allein verantwortlich für die Krise des Turnens. Aber ganz so mannigfaltig wie das Bewegungsangebot (um die 20 Sportarten und diverse Angebote im Bereich Gesundheit und Bewegung) der rund 3000 Turnvereine in der Schweiz sind die Gründe für die Krise dann doch nicht. Nicht zuletzt veränderte die technologische Entwicklung die Gesellschaft. Alles beschleunigte sich im binären Takt der Digitalisierung. Neue Sportarten kamen, neue Trends verbreiteten sich über Internet und Smartphones immer schneller. Turnen drohte aus der Zeit zu fallen.

Bild
grafik: CH Media

Also schüttelten die Turner den Staub ab und begannen sich selbst zu verändern, ihr Angebot, ihre Zeitpläne. Turnboss Hediger erinnert sich: «Neben dem klassischen Turnangebot kamen neue Spielformen dazu. Als ich vor 40 Jahren frisch in den Turnverein kam, spielte man Korbball, Handball und Faustball. Vor etwa 30 Jahren kam Volleyball hinzu und dann Unihockey.» Wer nicht mit der Zeit geht, steht irgendwann im Abseits, das hat man erkannt. So hat man beispielsweise auch Yoga und Rückengymnastik ins Programm genommen. Und man erfindet sich fortlaufend neu.

«Wir müssen uns öffnen und anbieten, was den Jungen gefällt»

Das neuste Projekt heisst Parkour. Erste Vereine in der Stadt Zürich bieten diese spezielle Form des Hindernislaufs bereits an. Ab 2020 will der STV Parkour ins offizielle Sport-Angebot aufnehmen. Erste Vorläufer dieser Sportart gab es zwar bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Erst in den späten 1980er-Jahren wurde sie dann aber von Raymond Belle und seinem Sohn David in einem Pariser Vorort zu dem entwickelt, was man heute darunter versteht. Waghalsige Sprünge über Treppen, Salti, Hechtrollen, Klammergriffe – Parkour ist Rennen, Springen, Gymnastik, Turnen, alles in einem, alles in der Stadt, hip und modern. «Wir müssen uns öffnen und anbieten, was den Jungen gefällt», sagt Hediger.

In seiner ursprünglichen Form war Parkour nicht-kompetitiv, keine Wettkämpfe also. Das hat sich längst geändert. Seit 2019 ist Parkour eine offizielle Disziplin des internationalen Turnverbandes mit Weltcup-Wettkämpfen und allem, was dazugehört. Der STV zieht nach. Man hat einen Projektleiter eingestellt. Er arbeitet Konzepte aus. Für Leiterausbildungen, neue Wettbewerbe. Alles, was dazugehört.

Aufnahmen vom Parkour-Weltcup im japanischen Hiroshima.Video: YouTube/StephiieZee

Mit der Aufnahme von Parkour ins offizielle Programm setzt der STV zur Rückeroberung der Städte an. Denn obwohl einst alles in der Stadt Aarau seinen Ursprung hatte, sind Männerriegen, Jugi sowie Senioren- und Muki-Turnen heute vor allem ein ländliches Phänomen. Genau Zahlen gibt es zu Stadt-/Land-Verhältnissen bei den Turnern nicht. «Die Gesellschaft funktioniert in der Stadt anders als auf dem Land. Einerseits ist das Bewegungsangebot dort grösser, andererseits gibt es aber oft auch Infrastrukturprobleme», sagt Jérôme Hübscher, Chef Breitensport beim STV. Ohne Turnhalle turnt sich schlecht.

Dass man das Angebot anpasst, hat wesentlich damit zu tun, dass etliche Turnvereine «ausstarben». Entweder weil ihre Mitglieder tatsächlich dahinschieden oder weil man keine Leute mehr fand, die unterrichten, die vorne hinstehen und den «Vorturner», wie anno dazumal, geben, Leute die Verantwortung übernehmen. Von der Herausforderung, genügend «gut ausgebildete, motivierte Kader» zu haben, spricht STV-Geschäftsführer Ruedi Hediger.

SRF sendet erstmals live

Dabei hilft den Turnern ihre grosse Breite. Je stärker diese ist, desto höher die Qualität an der Spitze. Lichtfiguren des Turnens wie Giulia Steingruber, Pablo Brägger oder Oliver Hegi sind Folge und Magnet der Masse zugleich. Aber sie geht weiter. Nicht nur im Bundesrat sitzt mit Viola Amherd mindestens eine Turnerin, sondern auch an der Spitze der SRF-Sportabteilung waltet mit Roland Mägerle ein Turner.

Überall gibt es Turnerinnen und Turner, in fast jedem Dorf einen Turnverein, sie sind bestens vernetzt. Das generiert nicht nur Goodwill bei den Behörden, es schadet auch nicht, wenn es um die Übertragung des Eidgenössischen Turnfests geht. Erstmals wird das SRF dieses Jahr die Wettkämpfe der Spitzenturner live in die Stuben der Nation senden. Nur alle sechs Jahre gibt es für sie einen Festsieg zu holen, seltener also als Olympiamedaillen. «Schon das macht es speziell», sagt SRF-Sportchef Mägerle.

Die Schweizer Turnerin Ilaria Kaeslin bei ihrer Uebung am Swiss Cup im Zuercher Hallenstadion am Sonntag, 8. November 2015. (KEYSTONE/Urs Flueeler)

Ilaria Kaeslin of Switzerland performs during the ...
Ilaria Kaeslin am Schwebebalken: Sie ist eines der Aushängeschilder 2019.Bild: KEYSTONE

Das SRF wird auch den Ausfall von Star-Turnerin Steingruber verkraften. 2016 gewann sie Bronze am Sprung bei Olympia in Rio, im Juli 2018 riss sie sich das Kreuzband. Das Turnfest kommt zu früh für sie. «Ihr erster Wettkampf wird die interne WM-Quali im Herbst sein. Ihr erster öffentlicher Wettkampfauftritt die Schweizer Meisterschaft», sagt Felix Stingelin, Chef Spitzensport beim STV. Ihre Abwesenheit aber schafft Raum für neue Lichtfiguren. Zum Beispiel Ilaria Kaeslin, eine entfernte Verwandte der ehemaligen Sprung-Europameisterin Ariella Kaeslin. Unlängst gewann sie ihren ersten Weltcup am Boden. Für die Zukunft scheint gesorgt.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Flug-Show der Turnerinnen an der EM 2018 in Glasgow
1 / 19
Die Flug-Show der Turnerinnen an der EM 2018 in Glasgow
In Glasgow wird im August 2018 um EM-Medaillen geturnt. Die Dänin Victoria Kajoe scheint tatsächlich über dem Schwebebalken zu schweben.
quelle: ap/pa / john walton
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Im Turnunterricht mussten wir sogar BREAKDANCEN!»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
13 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Raphael Bühlmann
11.06.2019 22:55team watson
Es gibt seit etwa 20 Jahren eine Parkour-Community in der Schweiz, ich habe selber von 2006 bis 2016 aktiv trainiert. Organisationen wie ParkourONE vertreten unseren Sport mit viel Herzblut schon seit über zehn Jahren, bieten hochprofessionelle Trainings und Workshops an – Traceure der ersten Stunde!

Viele in der Community sind dagegen, dass der STV jetzt plötzlich Parkour für sich beanspruchen will.

Schweizer Vereine und Organisationen sind z. B.:

https://parkourone.com/regionen/schweiz/
http://www.free-z.ch/de/
https://parkour.nurf.ch/
https://www.parkourluzern.ch/
426
Melden
Zum Kommentar
avatar
Nichts als Blabla
11.06.2019 22:06registriert Juni 2019
Ich würde mir einen Artikel aus der Sicht der Parkour-Ausübenden wünschen, dass auch wahrgenommen würde, dass längst nich alle damit einverstanden sind, dass nun plötzlich der Turnverband über ihre Geschicke bestimmen soll. Auch über die Kontroversität, die sich in der Community um das Thema Wettkampf dreht.
305
Melden
Zum Kommentar
avatar
wendelsch
11.06.2019 22:17registriert Oktober 2014
Bei Parkour kommt mir immer nur die Szene von The Office in den Sinn:
250
Melden
Zum Kommentar
13
«Keine Anhaltspunkte»: Drogen-Ermittlungen gegen Handball-Goalie Portner eingestellt
Die Staatsanwaltschaft in Deutschland stellt die Ermittlungen gegen den Schweizer Handball-Goalie Nikola Portner ein. Es gab keine Anhaltspunkte für einen Verstoss gegen das Anti-Doping-Gesetz. Abgeschlossen ist der Fall nicht.

Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Nikola Portner wegen des Verdachts eines Verstosses gegen das Anti-Doping-Gesetz sind von der Staatsanwaltschaft Magdeburg eingestellt worden. Das teilte der SC Magdeburg am Montag über seinen Rechtsanwalt Professor Rainer Tarek Cherkeh mit. «Es lägen, so die Staatsanwaltschaft, keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschuldigte gegen das Anti-Doping-Gesetz oder das Betäubungsmittelgesetz verstossen habe», heisst es in der Mitteilung des Champion-League-Siegers. Demnach wurden die Untersuchungen mangels Tatverdachts beendet.

Zur Story