Der Höhenflug war beispiellos. Kinder, Väter und Mütter, selbst Grosseltern – alle turnten sie. Die Schweiz, eine Nation von Turnerinnen und Turnern. Mitte der 90er-Jahre zählte der Schweizerische Turnverband (STV) mehr als 500'000 Mitglieder, mehr als sieben Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung. Kein anderer Sportverband war je erfolgreicher. Zugleich aber schlitterte der STV in eine ernsthafte Krise.
Die Zeitung «Sport» titelte am 21. Mai 1997: «Millionenloch beim Turnverband – die Mitglieder müssen zahlen». Und er schrieb von zwei Millionen Franken, die zwischen 1995 und 1997 fehlten, zu geringer Eigenkapitaldeckung, steigenden Jahresbeiträgen und drohenden Verlustzahlungen für das Eidgenössische Turnfest aus dem Jahr 1996 in Bern. 800'000 Franken Verlust fuhren die Veranstalter damals ein, sechs Jahre später im Baselbiet endete das Eidgenössische mit ähnlich trister Bilanz. Zugleich schrumpften die Mitgliederzahlen bis runter «auf um die 360'000», wie Ruedi Hediger, Geschäftsführer des Turnverbandes, sagt. Der Trend hielt an bis kurz vor dem letzten Turnfest in Biel.
Die negative Entwicklung bei den Mitgliederzahlen der Turner widerspiegelt sich auch an der Anzahl Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Eidgenössischen Turnfesten. Bis 2007 in Frauenfeld fielen sie um fast 20'000 auf 56'000 Teilnehmende. Zugleich aber gelang der finanzielle Turnaround. Eine Million Gewinn setzte das Fest 2007 ab. Die Talsohle war durchschritten. Seither stiegen sowohl die Mitgliederzahlen beim Turnverband (heute um die 380'000) als auch die Anzahl Teilnehmer am Turnfest (für Aarau 2019 rund 68'500; Stand vom letzten Freitag).
Natürlich, die Finanzen waren nicht allein verantwortlich für die Krise des Turnens. Aber ganz so mannigfaltig wie das Bewegungsangebot (um die 20 Sportarten und diverse Angebote im Bereich Gesundheit und Bewegung) der rund 3000 Turnvereine in der Schweiz sind die Gründe für die Krise dann doch nicht. Nicht zuletzt veränderte die technologische Entwicklung die Gesellschaft. Alles beschleunigte sich im binären Takt der Digitalisierung. Neue Sportarten kamen, neue Trends verbreiteten sich über Internet und Smartphones immer schneller. Turnen drohte aus der Zeit zu fallen.
Also schüttelten die Turner den Staub ab und begannen sich selbst zu verändern, ihr Angebot, ihre Zeitpläne. Turnboss Hediger erinnert sich: «Neben dem klassischen Turnangebot kamen neue Spielformen dazu. Als ich vor 40 Jahren frisch in den Turnverein kam, spielte man Korbball, Handball und Faustball. Vor etwa 30 Jahren kam Volleyball hinzu und dann Unihockey.» Wer nicht mit der Zeit geht, steht irgendwann im Abseits, das hat man erkannt. So hat man beispielsweise auch Yoga und Rückengymnastik ins Programm genommen. Und man erfindet sich fortlaufend neu.
Das neuste Projekt heisst Parkour. Erste Vereine in der Stadt Zürich bieten diese spezielle Form des Hindernislaufs bereits an. Ab 2020 will der STV Parkour ins offizielle Sport-Angebot aufnehmen. Erste Vorläufer dieser Sportart gab es zwar bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Erst in den späten 1980er-Jahren wurde sie dann aber von Raymond Belle und seinem Sohn David in einem Pariser Vorort zu dem entwickelt, was man heute darunter versteht. Waghalsige Sprünge über Treppen, Salti, Hechtrollen, Klammergriffe – Parkour ist Rennen, Springen, Gymnastik, Turnen, alles in einem, alles in der Stadt, hip und modern. «Wir müssen uns öffnen und anbieten, was den Jungen gefällt», sagt Hediger.
In seiner ursprünglichen Form war Parkour nicht-kompetitiv, keine Wettkämpfe also. Das hat sich längst geändert. Seit 2019 ist Parkour eine offizielle Disziplin des internationalen Turnverbandes mit Weltcup-Wettkämpfen und allem, was dazugehört. Der STV zieht nach. Man hat einen Projektleiter eingestellt. Er arbeitet Konzepte aus. Für Leiterausbildungen, neue Wettbewerbe. Alles, was dazugehört.
Mit der Aufnahme von Parkour ins offizielle Programm setzt der STV zur Rückeroberung der Städte an. Denn obwohl einst alles in der Stadt Aarau seinen Ursprung hatte, sind Männerriegen, Jugi sowie Senioren- und Muki-Turnen heute vor allem ein ländliches Phänomen. Genau Zahlen gibt es zu Stadt-/Land-Verhältnissen bei den Turnern nicht. «Die Gesellschaft funktioniert in der Stadt anders als auf dem Land. Einerseits ist das Bewegungsangebot dort grösser, andererseits gibt es aber oft auch Infrastrukturprobleme», sagt Jérôme Hübscher, Chef Breitensport beim STV. Ohne Turnhalle turnt sich schlecht.
Dass man das Angebot anpasst, hat wesentlich damit zu tun, dass etliche Turnvereine «ausstarben». Entweder weil ihre Mitglieder tatsächlich dahinschieden oder weil man keine Leute mehr fand, die unterrichten, die vorne hinstehen und den «Vorturner», wie anno dazumal, geben, Leute die Verantwortung übernehmen. Von der Herausforderung, genügend «gut ausgebildete, motivierte Kader» zu haben, spricht STV-Geschäftsführer Ruedi Hediger.
Dabei hilft den Turnern ihre grosse Breite. Je stärker diese ist, desto höher die Qualität an der Spitze. Lichtfiguren des Turnens wie Giulia Steingruber, Pablo Brägger oder Oliver Hegi sind Folge und Magnet der Masse zugleich. Aber sie geht weiter. Nicht nur im Bundesrat sitzt mit Viola Amherd mindestens eine Turnerin, sondern auch an der Spitze der SRF-Sportabteilung waltet mit Roland Mägerle ein Turner.
Überall gibt es Turnerinnen und Turner, in fast jedem Dorf einen Turnverein, sie sind bestens vernetzt. Das generiert nicht nur Goodwill bei den Behörden, es schadet auch nicht, wenn es um die Übertragung des Eidgenössischen Turnfests geht. Erstmals wird das SRF dieses Jahr die Wettkämpfe der Spitzenturner live in die Stuben der Nation senden. Nur alle sechs Jahre gibt es für sie einen Festsieg zu holen, seltener also als Olympiamedaillen. «Schon das macht es speziell», sagt SRF-Sportchef Mägerle.
Das SRF wird auch den Ausfall von Star-Turnerin Steingruber verkraften. 2016 gewann sie Bronze am Sprung bei Olympia in Rio, im Juli 2018 riss sie sich das Kreuzband. Das Turnfest kommt zu früh für sie. «Ihr erster Wettkampf wird die interne WM-Quali im Herbst sein. Ihr erster öffentlicher Wettkampfauftritt die Schweizer Meisterschaft», sagt Felix Stingelin, Chef Spitzensport beim STV. Ihre Abwesenheit aber schafft Raum für neue Lichtfiguren. Zum Beispiel Ilaria Kaeslin, eine entfernte Verwandte der ehemaligen Sprung-Europameisterin Ariella Kaeslin. Unlängst gewann sie ihren ersten Weltcup am Boden. Für die Zukunft scheint gesorgt.
Viele in der Community sind dagegen, dass der STV jetzt plötzlich Parkour für sich beanspruchen will.
Schweizer Vereine und Organisationen sind z. B.:
https://parkourone.com/regionen/schweiz/
http://www.free-z.ch/de/
https://parkour.nurf.ch/
https://www.parkourluzern.ch/