Eigentlich wollte Paris Hilton Tierärztin werden. Doch eines Tages kam ihr dieser Plan abhanden. Wann, weiss niemand mehr so genau, sie selbst erinnert sich, dass sie mit 13 zum ersten Mal davon träumte, eine Celebrity zu werden. Dass sie die Vorstellung, von Paparazzi verfolgt zu werden, prickelnd fand. Ihre konservativen Eltern versuchten krampfhaft, sie zur Debütantin zu formen. Zu einem katholischen Mädchen mit Perlenkette, Krägchen und föngewelltem Haar. Ihre Mutter hatte selbst als Kinderschauspielerin und in der Werbung gejobbt, sie wollte die eigenen Töchter vom Showbizz fernhalten.
«Sauber, zurückhaltend, perfekt», hätte sie werden sollen, sagt Paris Hilton. Doch sie besorgte sich eine gefälschte ID, eine Halskette mit der Aufschrift «Bitch» und kurze Kleider, schwänzte die Schule und ging raven. Verschmolz mit Nacht, Musik und Champagner und war glücklich.
Sie rannte mit ein paar andern Mädchen davon. Kam in die nächste Institution, rannte wieder weg. Auf der Suche nach der widerspenstigen Urenkelin des Hotel-Tycoons Conrad Hilton wurden Flughäfen und Autobahnen abgesperrt. Und dann, mit 16 Jahren, kam sie in eine der härtesten Anstalten, in die Provo Canyon School (PCS) in Utah. Bereits in den 80er- und 90er-Jahren war die Schule mehrfach wegen physischer und psychischer Gewalt gegen Schülerinnen und Schüler verklagt worden.
Der Dokfilm «This Is Paris» von Alexandra Haggiag Dean begleitet Paris Hilton auf der Konfrontation mit jener Zeit, über die sie bisher noch nie geredet hat und die ihr Leben und die Fassade, zu deren Inszenierung sie sich entschloss, doch ganz essentiell formte. Elf Monate lang verbrachte sie in der PCS, Schlagen, Würgen und den Mädchen beim Duschen Zuschauen waren an der Tagesordnung. Ebenso das Verabreichen nicht deklarierter Medikamentencocktails.
Andere Schülerinnen wurden sexuell missbraucht. Jedes Selbstwertgefühl wurde vernichtet. Das Stillschweigen der Mädchen wurde mit der Androhung von noch mehr Gewalt erpresst. Viele waren unter Suizid-Verdacht. Und Paris Hilton schwor sich, dass nach ihrem 18. Geburtstag kein Mensch mehr über sie Kontrolle ausüben würde. Auch nicht ihre Eltern.
Ihre Freiheit würde sie sich mit nichts anderem als sich selbst erkaufen. Sie würde sehr berühmt und sehr reich werden. Sie würde 100 Millionen Dollar verdienen und dann glücklich sein. Und sie setzte ihren Plan in die Tat um: Wurde im Nu zu einer Megacelebrity. Verlieh den Nächten, in denen sie herumflirrte und Handküsse in Kameras verteilte, den Glanz einer DisneyPrinzessin. Schien ein nimmermüdes Wesen aus Plastik zu sein. War Influencerin avant la lettre. Gilt als Erfinderin des Selfies. Wurde zum Reality Star («The Simple Life»). Und wider Willen zum Pornostar («One Night in Paris»).
Sie wurde aber auch Unternehmerin und DJane mit Millionengage. Und setzte sich immer neue Ziele: Aus den 100 Millionen Dollar soll jetzt eine Milliarde werden. Dann, so denkt sie immer noch, wird sie vielleicht glücklich. Dann will sie sich vielleicht zur Ruhe setzen und aus ihren eingefrorenen Eizellen eine Tochter bauen lassen. Name: London. Bis dahin füllt sie das Loch in sich mit viel zu vielen Dingen. Und mit Tieren, die sie mehr liebt als Menschen. Und mit der Zuneigung der Fans, die sich für sie immer «wie Liebe» anfühlt. Auch die Aufmerksamkeit der Paparazzi. Wahrscheinlich auch das Funkeln ihres Schmucks.
Schlafen kann sie schon seit vielen Jahren kaum, weil sie dann immer Szenen aus der PCS vor sich sieht. Auch ihre Männergeschichten werden durch diese Vorgeschichte etwas verständlicher, ihre krankhafte Angst vor Bindung, ihr Drang, die Typen mit Geheimkameras zu überwachen, wenn sie unterwegs ist, ihr Ritual, nach jedem Boyfriend sofort einen neuen Computer zu kaufen, damit nicht einer ein Revenge-Hacking macht. In ihrem Haus türmen sich so Dutzende ausrangierter Laptops, jeder gehört zu einem ausrangierten Boyfriend. Ein Friedhof der kaltgestellten Herzen.
Gut zwanzig Jahre lang denkt sie, dass die Konfrontation mit der Vergangenheit ihren «Brand» beschädigen könnte. Ihre glatte Goldmarie-Fassade. Doch dann trifft sie sich mit einigen Mitschülerinnen von früher und schliesst sich der Initiative #BreakingCodeSilence an. Und aus ihrem persönlichsten Elend wird ein Engagement für andere. Für weggesperrte Kinder, deren Lebensmut systematisch unterminiert wird.
Sie habe durch den Dokfilm von Alexandra Haggiag Dean enorm viel über sich selbst gelernt, sagt Paris Hilton gleich zu Beginn. Und macht damit klar, dass auch der Film seinen ganz pragmatischen, ganz amerikanischen Zweck im zielgerichteten System Paris Hilton hat. Er ist ein Ersatz für die Therapie, die sie bisher nicht machen wollte. Weil sie in einer Therapie ja die Kontrolle verlieren müsste.
Im Film tut sie das nicht. Im Film bleibt sie ganz die Chefin. Die uns jetzt eine andere Geschichte über sich erzählt. Und die vielleicht endlich einmal genug Geld hat und einen Freund, dem sie vertrauen mag. Auf dass das mit Gold gefüllte Loch in ihrem Herzen zuwachse.