Herr Knecht, mit was für einem Tötungsdelikt haben wir es in Würenlingen zu tun?
Thomas Knecht: Der Tatablauf der Bluttat in Würenlingen lässt auf einen Mord-Selbstmord schliessen. Dieser unterscheidet sich vom klassischen erweiterten Suizid dadurch, dass der Täter zu den Opfern nicht in einem eigentlich positiven Verhältnis steht, wie er das etwa bei seinen Kindern oder seiner Ehefrau tut. Im erweiterten Suizid liegt das Tatmotiv in erster Linie im Selbstmord, deren Konsequenzen die Angehörigen nicht mehr erleben sollen. Bei einem Selbstmord nach einer Tat, wie sie jetzt in Würenlingen verübt worden ist, will sich der Täter eher den Konsequenzen seiner Tat entziehen. Primäres Motiv war aber die Auslöschung der Schwiegerfamilie.
Der Täter von Würenlingen hat aber nicht nur seine Schwiegerfamilie ausgelöscht, sondern auch einen unbeteiligten Nachbarn erschossen. Wie ist das einzuordnen?
Eine Möglichkeit ist, dass der Täter nach den drei Morden an seinen Schwiegereltern und seinem Schwager in einen regelrechten Tötungsmodus verfiel. Dann kann es natürlich jeden noch so Unbeteiligten treffen, die Auswahl der Opfer ist dann völlig willkürlich und es muss auch keine Provokation oder dergleichen erfolgen. Der Nachbar war vermutlich leider einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Vorausgesetzt natürlich, es gingen keine Konflikte zwischen den beiden Personen aus der Vergangenheit voraus. Aber nach allem, was wir bis jetzt wissen, war das nicht der Fall.
Warum sind oft die Schwiegereltern Ziel von Gewalt?
Wir alle kennen das: Bei der Beziehung zu den Schwiegereltern ist das Problem oft, dass die gleichen zum Teil scharfen Konflikte auftreten können wie mit den eigenen Eltern: Diese stellen hohe Erwartungen an den Partner ihrer Kinder oder üben Druck aus, damit dieser den Erwartungen gerecht werde. Aus der engen Beziehung zum Partner und oft auch aus einer grossen ökonomischen Potenz der Schwiegereltern entstehen nicht selten ungleiche Machtverteilungen und pekuniäre Abhängigkeiten. Der Unterschied ist eigentlich nur, dass keine Blutsverwandtschaft besteht. Diese entschärft solche Konflikte und wirkt in hohem Masse gewaltpräventiv.
Also ist die Bereitschaft, einen Konflikt mit den Schwiegereltern durch Gewalt zu lösen, grösser als bei Blutsverwandten?
Ja. Das ist auch statistisch erwiesen. Die Gründe, die im Einzelfall dazu führen oder es verhindern, dass man Verwandte, seien sie blutsverwandt oder nicht, körperlich angeht, verletzt oder sogar tötet, sind mannigfaltig. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die Tatsache der Blutsverwandtschaft eine natürliche Hemmschwelle zu bilden scheint.
Die Kantonspolizei Aargau berichtete, dass der Täter seine Opfer mit «relativ vielen» Schüssen gezielt getötet hatte, wie bei einer Hinrichtung. Solche Berichte sind wir uns aus dem Drogenkrieg in Mexiko gewöhnt, nicht aber aus der Schweiz.
Ein Vergleich mit Mexiko oder anderen Krisenländern mit einer generell höheren Mord- und Gewaltrate lässt sich natürlich nur schwer ziehen. In solchen Gebieten spielen vor allem wirtschaftliche Gründe in die hohe Gewaltbereitschaft hinein, während persönliche Motive vermutlich gleich oft tatauslösend sind wie hierzulande. Wobei es in Würenlingen wohl eine verhängnisvolle Vermischung aus wirtschaftlichen und persönlichen Motiven für den Mehrfachmord gab. Es ist ja auch von einem vorenthaltenen Erbe die Rede.
Der Täter war polizeilich bekannt und im April fand bei ihm zu Hause eine Durchsuchung nach Waffen statt. Weiter war er in einer «fürsorglichen Einrichtung», wie die Kapo Aargau berichtet. Hätte sich die Tat verhindern lassen?
Im Nachhinein sind solche Warnhinweise natürlich immer einfach zu deuten. Ein Täter kann aber nicht für etwas eingesperrt werden, das er noch nicht getan hat. Die Freiheitsrechte sind in der Schweiz sehr stark ausgeprägt. Anders sieht das aus bei Personen, die sich in einer sogenannt kleinen Verwahrung im Strafvollzug, also einer stationären Massnahme oder der ordentlichen Verwahrung befinden. Dort können regelmässige Risikoanalysen über das Gewaltpotential oder die Rückfallgefahr von Tätern Aufschluss geben. Aber auch dort gilt: Absolute Sicherheit gibt es nicht.
Sind solche Taten also der Preis für unsere Freiheit?
Ich denke, so pauschal darf man es nicht formulieren. Wäre unser System restriktiver, so würden sich die Fehlbaren wohl umso mehr Mühe geben, ihre Vorbereitungshandlungen noch diskreter durchzuführen. In totalitären Systemen sind derartige Handlungen meines Wissens nicht seltener. Dies zeigt sich auch in diesem Fall: Der Täter war sich wahrscheinlich bewusst, dass er unter Beobachtung durch die Behörden stand. Trotz einer vorangegangen Hausdurchsuchung konnte keine Waffe gefunden und die Tat verhindert werden.
Der Täter hatte eine unregistrierte Waffe. Was denken Sie, wie einfach kann man an eine solche gelangen?
Wie mir aus meiner gutachterlichen Tätigkeit bekannt ist, ist es zumindest in bestimmten Milieus recht einfach, sich eine unregistrierte Waffe zu beschaffen – natürlich unter Verletzung des geltenden Rechts. Vergleichen lässt sich dies mit den Drogen. Wer Marihuana oder Kokain kaufen will, wird auch jemanden finden, der es ihm verkauft, auch wenn diese Substanzen grundsätzlich verboten sind. Der Schwarzhandel wird sich nie gänzlich eindämmen lassen, also wird es auch immer unregistrierte Waffen geben.