Ich habe in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Länder besucht, über die ich praktisch nichts wusste. Wenn ich Georgien, Kirgisistan oder El Salvador hörte, klingelte bei mir nichts. Vor dem Grenzübertritt hatte ich keine Vorstellungen davon, was mich in diesen Ländern erwarten könnte.
Bei Brasilien war das anders. Zwar war ich auch im 200-Millionen-Einwohner-Land noch nie zuvor. Doch der Name Brasilien weckte bei mir schon vor der Ankunft zahlreiche Assoziationen:
Brasilien, das sind für mich meine Fussballidole aus der Kindheit – Roberto Carlos, Ronaldinho und Ronaldo (der mit der Zahnlücke, nicht der mit zu viel Gel in den Haaren). Bei Brasilien denke ich an den Amazonas, an Caipirinhas, Favelas, weisse Strände und den Karneval in Rio. Und ja, ich gebe es zu: Ich denke auch an braungebrannte Frauen in knappen, grün-gelb-blauen Bikinis, die zu Samba-Rhythmen ihre Hüften schwingen lassen.
In unseren ersten Tagen hier haben wir von all meinen Brasilien-Klischees aber rein gar nichts mitbekommen. Keiner unserer Fahrer nannte sich Ronaldo oder Ronaldinho – und sie sahen auch völlig anders aus als die brasilianischen Fussballstars.
Der gross gewachsene Irio zum Beispiel würde mit seiner schlaksigen Statur, der hellen Haut sowie den blauen Augen eher in die Innenverteidigung von Deutschland passen als in die brasilianische Seleção – wenn er denn 30 Jahre jünger wäre.
Tatsächlich hat Irio deutsche Wurzeln. Und er ist keine Ausnahme im Süden Brasiliens. Nirgends gibt es so viele europäische Einwanderer wie in den Bundesstaaten Paraná, Rio Grande do Sul und Santa Catarina. Von den rund 30 Millionen Menschen, die hier leben, bezeichnen sich rund 80 Prozent als «Weisse».
Die meisten Einwanderer aus Deutschland, Holland, Italien, Polen, Portugal und vielen anderen europäischen Ländern liessen sich im 19. Jahrhundert in der Region nieder. Der Zweite Weltkrieg brachte eine weitere Welle. Unter anderem flüchteten nach Kriegsende zahlreiche Nazis hierher, um fernab von Hitler und Holocaust ein ruhiges, unbehelligtes Leben zu führen.
Wieso es ihnen hier so gut gefiel, liegt auf der Hand: Die Hügellandschaften erinnern stark an Europa, die Felder könnten glatt im Zürcher Oberland liegen. Sie sind einfach x-mal grösser, werden von moderneren Traktoren beackert – und mit mehr Chemie besprüht.
Der europäisch geprägte Süden hat massgeblich dazu beigetragen, dass Brasilien heute eine der wichtigsten Agrarnationen der Welt ist. Die Ernte bedeutet Wohlstand. Für lateinamerikanische Verhältnisse sind die Strassen, Häuser und Dörfer hier aussergewöhlich gepflegt, das Leben wirkt ruhig und geordnet – fast wie in der Schweiz. Selbst die Musik, die unser Fahrer Marcel laufen lässt, erinnert stark an Ländlermusik.
Ich sage zu Marcel: «Das Akordeon ist auch in der traditionellen Musik der Schweiz sehr wichtig.» Der Lastwagenfahrer kann es fast nicht glauben; «Wirklich? Das gibt es bei euch auch?» Er hat offensichtlich gedacht, dass die Handorgel ein typisch brasilianisches Instrument ist. Genau gleich wie ich lange Zeit geglaubt hatte, dass die Handorgel etwas ausgesprochen Schweizerisches ist.
An einer Raststätte begegne ich erneut etwas «typisch» Brasilianischem: Im kleinen Shop gibt es geschnitzte Holzkühe und präparierte Hörner von Rindern zu kaufen. Ich muss schmunzeln: Auf der Heidiland-Raststätte im Rheintal würden diese Souvenirs sicher auch gut ankommen – als «typisch» schweizerisch.
Klischees sind gut für die Tourismusvermarktung. Mit dem wahren Leben der meisten Menschen haben sie in der Regel aber nur wenig zu tun. Oder anders ausgedrückt: Der Alpaufzug im Appenzell ist für die Schweiz wohl etwa genauso repräsentativ wie der Karneval in Rio für Brasilien.