Die Weltreligionen werden vom Zeitgeist überrollt und stecken in der Krise. Während sich die Welt rasend schnell entwickelt – technisch, geistig, politisch und sozial – bleiben die massgebenden Heilslehren in ihrem engen Korsett stecken.
Das müssen sie, weil sie angeblich die letzte Wahrheit verkünden, die sich nicht modifizieren lässt. Wahrheit bleibt Wahrheit. Halbe Wahrheiten gibt es nicht. Und so surft der Zeitgeist unbeirrt an den traditionellen Glaubensgemeinschaften vorbei, was oft zu fundamentalistischen Reaktionen führt, wie wir aktuell beim Islam und im Vatikan beobachten können.
Dank ihrer Machtposition konnten sich die grossen Kirchen jahrhundertelang gut behaupten. Nur wenige Menschen wagten es, sie und ihre Heilslehre öffentlich in Frage zu stellen. Wer es trotzdem tat, wurde stigmatisiert oder gar auf den Scheiterhaufen geworfen.
Doch seit etwa 50 Jahren bröckelt die Deutungshoheit der massgebenden Glaubensgemeinschaften. Der Widerstand gegen das selbstherrliche Gebaren vieler Institutionen wuchs. Heute kämpfen die christlichen Kirchen in Europa gar um ihre Existenz. Ein Umstand, den sich vor 30 Jahren kaum jemand hätte vorstellen können.
Es gibt viele Gründe für diese Existenzkrise. Im Vordergrund stehen die geistige Emanzipation der Menschen und die neuen Erkenntnisse auf allen Ebenen. Viele Phänomene, die früher nicht erklärbar waren, interpretierten die Religionen mit übersinnlichen oder metaphysischen Argumenten.
Heute jedoch wirken diese Erklärungen der Kirchen nicht mehr plausibel. Oder sie lassen sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen widerlegen. Deshalb haben alle Religionen ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Ein weiterer Grund ist das neue Selbstwertgefühl von uns Menschen. Wissenschaft und Technik lassen uns viele Probleme lösen, die früher für die Menschen tödlich waren. Ihre Ohnmacht zwang sie, auf ein Wunder oder die Hilfe Gottes zu hoffen.
Heute sind wir ziemlich unabhängig von Gott oder den Göttern. Wir wissen, dass wir sterblich bleiben. Um das Leben zu verlängern und den Tod hinauszuzögern, verlassen wir uns nicht mehr auf Gott, sondern auf die Götter in Weiss.
Die Unabhängigkeit von göttlichen Instanzen führt aber oft zum Personenkult und zur Selbstüberhöhung. Wir Menschen neigen heute gern dazu, uns an die Stelle Gottes zu hieven.
Ein weiterer Aspekt für die Krise der meisten Glaubensgemeinschaften liegt im Kern ihrer Heilslehren. Was diese uns vermitteln, ist in der heutigen Zeit weder glaubwürdig noch nachvollziehbar.
Nehmen wir Jesus als Beispiel und hinterfragen seine biblische Biographie. Nüchtern betrachtet sieht dann seine Geschichte so aus:
Der Wanderprediger wurde von seinen Jüngern als Sohn Gottes verehrt. Als er ans Kreuz geschlagen wurde, kamen sie in Erklärungsnot. Es kann doch nicht sein, dass der Sohn Gottes von den verhassten Römern zum Tod verurteilt wird.
Also suchten sie nach einer religiösen Erklärung. Diese lautete: Aus Liebe zu uns Menschen opferte Gott seinen Sohn. So wurde der jämmerliche Tod von Jesus zur Heldentat uminterpretiert.
Diese Vorstellung wirft Fragen auf: Wieso soll Gott seinen Sohn opfern? Lässt ein Vater sein Kind derart quälen? Gibt es keinen humaneren Weg, die Liebe zu demonstrieren?
Und: Weshalb soll Gott uns Menschen seine Liebe beweisen? Wenn er dies auf sinnvolle Weise tun wollte, könnte er Gerechtigkeit auf die Erde bringen. Oder dafür sorgen, dass das Leiden besser verteilt wird. Und beispielsweise nicht Kleinkinder an Krebs sterben.
Doch zurück zu Jesus. Da dieser als göttliches Wesen nicht sang- und klanglos sterben konnte, liessen ihn seine Jünger und Autoren der Bibel wieder von den Toten auferstehen.
Doch damit schufen sie ein neues Problem: Was macht man mit einem auferstandenen Sohn Gottes, der hingerichtet wurde, weil er sich als göttliches Wesen ausgegeben hatte? Er und seine Jünger wären wohl weiterhin in Teufels Küche gekommen. Also musste Jesus rasch verschwinden. Und zwar dorthin, wo er angeblich hergekommen war: in den Himmel.
Ich weiss nicht, ob meine Interpretation zutrifft. Ich weiss aber, dass sie mindestens so plausibel ist wie die Versionen, die uns die vier Evangelien auftischen.
Sicher ist aber, dass die Geschichte von Jesus der Stoff ist, aus dem Märchen sind. Märchen, die Kinder so sehr lieben, weil sie ein Türchen ins Paradies öffnen. Sie erlauben eine geistige Flucht aus der garstigen Welt, in der Schmerzen und Leid zum Alltag gehören.
Der Glaube an Wunder ist ein Ventil, um die Unwegsamkeiten des Lebens besser zu verkraften. Vielleicht müsste man die Geschichte von Jesus unter diesem Aspekt betrachten.
Die Flucht in den Glauben der Wunder gibt uns Menschen neue Hoffnung. Ähnlich war es bei den Urchristen, die von den Römern verfolgt und gequält worden waren und darauf warteten, dass Jesus oder Gott sie mit einem Wunder erlösen würde. Schliesslich glaubten sie, mit dem Wirken von Jesus habe die Endzeit begonnen, in der sie vom Jammertal befreit und ins Paradies geführt würden. Ein kapitaler Irrtum, wie wir 2000 Jahre später wissen.
Übrigens: Ein solcher Wunderglaube kennt auch der Islam, der Märtyrern 72 Jungfrauen im Paradies verspricht.
Einspruch: Beim Islam scheint pervertierterweise das bare Gegenteil der Fall zu sein, jedenfalls legt er noch immer zu, so krud und mittelalterlich seine Vorstellungen auch immer sein mögen. Das Gleichgewicht verschiebt sich jedenfalls mit unüberhörbarem Getöse vom Christentum zum Islam hin.
Aber mit dem grossen Rest des Artikels bin ich durchaus einverstanden, vor Allem mit der gewundenen Erklärung der Christen über die "liebevolle Opferung des eigenen Sohnes". Beim besten Interpretationswillen eher dürftig.
Da kommt zum Beispiel ein junger Trottel nach seinem Attentat zu seinen 72 Jungfrauen. Nach 72 Tagen ist keine mehr Jungfrau. Was macht er dann den Rest der Ewigkeit? 😆😂