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Jetzt bleibt nur noch Kabul: Taliban übernehmen Grossstadt Dschalalabad

A passenger walks to the departures terminal of Hamid Karzai International Airport, in Kabul, Afghanistan, Saturday, Aug. 14, 2021. As a Taliban offensive encircles the Afghan capital, there's in ...
Wer kann, verlässt Afghanistan. Ein Mann am Flughafen von Kabul. Bild: keystone

Jetzt bleibt nur noch Kabul: Taliban übernehmen Grossstadt Dschalalabad

15.08.2021, 07:0315.08.2021, 08:51
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Die militant-islamistischen Taliban haben nun auch die Grossstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans übernommen. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag. Damit verliert die Regierung die vorletzte noch unter ihrer Kontrolle stehende Grossstadt des Landes. Ein möglicher Angriff auf ihre letzte Bastion Kabul könnte bald erfolgen. Erst am Samstagabend hatten die Taliban die wichtige Stadt Mazar-i-Scharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen. Dort waren bis Ende Juni deutsche Soldaten stationiert.

Die Islamisten seien um 6.00 Uhr morgens (Ortszeit) nach Dschlalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280 000 Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Sie würden niemanden belästigen und hätten den Menschen gesagt, sie sollten nicht stehlen. Soldaten, die sie sähen, entwaffneten sie und schickten sie nach Hause, sagte der Bewohner weiter.

Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. «Kämpfen wäre sinnlos gewesen.» In sozialen Medien geteilte Bilder zeigten rund ein Dutzend Taliban-Kämpfer im Büro des Provinzgouverneurs. Noch unbestätigten Berichten zufolge übernahmen die Islamisten auch weitere Bezirke in der Provinz Nangarhar. Es wäre damit nur eine Frage der Zeit, bis auch eine durch die Provinz verlaufende Hauptverbindung nach Pakistan über Land unter ihrer Kontrolle stünde.

Der Ring um die Hauptstadt Kabul ist somit mehr oder weniger zugezogen. Präsident Aschraf Ghani hatte am Samstag Sami Sadat, den jungen, ehemaligen Kommandeur des 215. Armeekorps zuständig für den Süden Afghanistans - der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist - zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul ernannt.

Es ist fraglich, ob der neue Kabul-Beauftragte Sadat noch gross dazu kommen wird, die Kräfte und Verteidigungslinien für die Hauptstadt zu verstärken. Es ist nicht bekannt, wie viele der auf dem Papier rund 300 000 Mann starken Sicherheitskräfte - Armee und Polizei - mittlerweile den Dienst quittiert haben. Am Samstag hatte Ghani in einer Fernsehansprache gesagt, die Sicherheitskräfte «remobilisieren» zu wollen.

epa09414583 Internally displaced families from northern provinces, who fled from their homes due to the fighting between Taliban and Afghan security forces, take shelter in a public park in Kabul, Afg ...
Flüchtlinge in einem öffentlichen Park in Kabul. Viele flüchteten vor den Gefechten der Taliban und der nationalen Sicherheitskräften. Bild: keystone

Nach den jüngsten kampflosen Übergaben mehrerer Provinzhauptstädte ist zudem unklar, ob die Sicherheitskräfte in Kabul sich den Taliban widersetzen würden. Weiter ist offen, wie lange sich Ghani angesichts der brisanten Lage noch halten kann. Er hatte am Samstag gesagt, er wolle «bald» einen Plan vorlegen, um weiteres Blutvergiessen und Zerstörung zu verhindern. Auf Spekulationen über seinen Rücktritt war er nicht eingegangen.

Angesichts des blitzartigen Eroberungszugs bereitet die Bundesregierung unter Hochdruck eine von der Bundeswehr abgesicherte Evakuierungsaktion in der Hauptstadt Kabul vor. Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sollen zu Wochenbeginn schnell ausser Landes gebracht werden.

Aussenminister Heiko Maas sagte der «Bild am Sonntag», dass nun die zügige Evakuierung deutscher Diplomaten und anderer Mitarbeiter das Wichtigste sei. «Wir werden nicht riskieren, dass unsere Leute den Taliban in die Hände fallen. Wir sind für alle Szenarien vorbereitet.»

Nach Informationen der Zeitung fliegt die Luftwaffe schon an diesem Montag mit Militärtransportern vom Typ A400M nach Kabul. Voraussichtlich werde es im usbekischen Taschkent Zwischenlandungen geben. Für die Passagiere soll es dann laut «BamS» mit Chartermaschinen weiter nach Deutschland gehen.

In Masar-i-Scharif hatte die Bundeswehr bis vor kurzem ein grosses Feldlager im Camp Marmal in der Nähe des Flughafens. Dort waren bis zum Sommer noch rund 1000 deutsche Soldaten stationiert. Ende Juni waren in vier Militärmaschinen die letzten verbliebenen Soldaten nachts ausgeflogen worden. Die Bundeswehr hatte zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge der Nato-Mission «Resolute Support» ausgebildet.

Der Provinzrat Sabiullah Kakar sagte, Masar-i-Scharif sei vollständig unter Kontrolle der Islamisten. Auch das 209. Armeekorps am Rande der Stadt sei gefallen, durch einen «Deal» mit den Taliban. In sozialen Medien wurden Bilder von Taliban geteilt, die bei der berühmten Blauen Moschee ihre Fahne anbrachten.

In Masar-i-Scharif könnten sich weiter auch Ortskräfte der Bundeswehr befinden. An ihnen werden Racheaktionen der Taliban befürchtet. Viele waren angesichts der steigenden Gefahr in den vergangenen Wochen bereits nach Kabul übergesiedelt. Eine ehemalige Bundeswehr-Ortskraft in Kabul sagte, seine Familie weine vor Angst, seit sie die Nachricht des Falls der Stadt erreicht habe. Sie gingen davon aus, dass Kabul auch bald eingenommen werde. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analyst Networks sagte, es sei «sehr, sehr unwahrscheinlich», dass sich die Entwicklung noch drehen könne. (sda/dpa)

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45 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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maylander
15.08.2021 08:32registriert September 2018
Die Taliban werden die Ausländer aus Kabul abziehen lassen.
Dann wird die Stadt, wie die anderen Städte den Taliban kampflos übergeben.
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G. Nötzli
15.08.2021 09:16registriert Juni 2015
Scheint als hätten sich die meisten Afghanen damit abgefunden, dass die Taliban an die Macht zurückkehren und sich deswegen nicht mehr verteidigen. Ähnlich hat such dies bei der Übernahme der roten Khmer in Kambodscha abgespielt (Uniform lieber verbrennen, damit sie bei der Machtübernahme nicht als Verräter dastehen usw.)

Verstehe zu einem gewissen Grad schon die NATO-Länder, welche nicht mehr bereit sind ihre eigene Soldaten zu stellen, wenn nicht einmal die eigene Bevölkerung für ihre Demokratie einstehen möchte…
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P4nd4k1n9
15.08.2021 07:35registriert August 2020
Wie lange hat man gebraucht, um das Land zu „befreien“? Und wie lange hat es gedauert, bis die Freiheit wieder verloren ging? Wohl nur die Rüstungsindustrie reibt sich hier die Hände… und die Chinesen!
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