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Analyse

Der grösste Lügenbold der US-Politik

Rep.-elect George Santos, R-N.Y., in the House chamber during the 15th round of voting as the House enters the fifth day trying to elect a speaker and convene the 118th Congress in Washington, early S ...
Endlich am Ziel: Der Hochstapler George Santos sitzt auf seinem Stuhl im Abgeordnetenhaus.Bild: keystone
Analyse

Der grösste Lügenbold der US-Politik

Der republikanische Abgeordnete George Santos hat (fast) alles in seinem Lebenslauf erfunden. Trotzdem darf er seinen Sitz im Kongress behalten, zumindest vorläufig.
16.01.2023, 17:4817.01.2023, 20:03
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Mit «Der talentierte Mr. Ripley» hat Patricia Highsmith 1955 einen Krimi-Klassiker geschrieben. Darin schildert sie, wie ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen mit einem reichen Kumpel eine Reise nach Italien machen darf, sich an das luxuriöse Leben gewöhnt, den reichen Kollegen umbringt, dessen Identität annimmt und fortan ein bequemes Leben führt.

Highsmith stellt die gängige Krimi-Logik auf den Kopf. Der Mörder geht nicht nur straffrei aus, die Leserinnen und Leser entwickeln auch so etwas wie Verständnis für seine Tat. Wer bitte will nicht auch ein Leben wie die Schönen und Reichen haben?

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Matt Damon in der Verfilmung des Klassikers von Patricia Highsmith.Bild: blushots.weebly.com

Was bei Highsmith noch Fiktion ist, hat George Santos in die Realität umgesetzt. Der heute 34-jährige Mann wurde im vergangenen November als republikanischer Abgeordneter des Nassau County (Bundesstaat New York) von den Wählern nach Washington geschickt. Inzwischen ist er jedoch zu einer nationalen Skandalfigur und – neben den bei Präsident Joe Biden gefunden Geheimpapieren – zum wichtigsten News-Ereignis der letzten Tage geworden. Was ist geschehen?

Wie der talentierte Mr. Ripley hat Santos seinen Lebenslauf nicht ein bisschen geschönt – was Politiker gelegentlich zu tun pflegen –, er hat ihn, wie die «New York Times» inzwischen aufgedeckt hat, fast vollständig frei erfunden.

Santos, ein Kind von brasilianischen Einwanderern, ist in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und besitzt keinen College-Abschluss. Seinen kargen Lebensunterhalt musste er bis vor Kurzem mit gerade mal 50’000 Dollar Jahreseinkommen bestreiten, und dies mit dubiosen Jobs in der Finanzindustrie. Zweimal wurde ihm wegen Mietrückstandes die Wohnung gekündigt.

In seinem Lebenslauf hingegen sieht dies alles ganz anders aus. Darin stellt er sich als jemand dar, der eine Elite-Schule besucht hat und einen Abschluss der renommierten New York University vorweisen kann. Gearbeitet haben will er für die beiden Banken Citigroup und Goldman Sachs. Nichts davon trifft zu.

Auch in seinem privaten Leben wimmelt es von Lügen. Santos hat eine Frau geheiratet, liess sich dann aber scheiden und kandidierte als Schwuler. Besonders bizarr ist sein Manöver, vorzutäuschen, dass er – obwohl katholisch erzogen – Jude sei. Ja, er ging dabei so weit, zu behaupten, seine Grossmutter sei nur ganz knapp dem Holocaust entkommen.

Selbst das Judentum war gefakt

Das Lügengebäude ist aufgeflogen und Santos gibt inzwischen zu, dass er in seinem Lebenslauf geflunkert hat. Alle würden dies tun, so seine Begründung, mit der er jedoch nicht einmal Fox News überzeugen konnte. In einem Interview wurde er von der Moderatorin Tulsi Gabbard regelrecht zerzaust.

Besonders sein angebliches Judentum ist sehr schlecht aufgenommen worden. Noch schlechter seine Ausrede, die man leider nur auf Englisch wiedergeben kann. Er habe nie gesagt, er sei «Jew», sondern «Jew-ish», so Santos. Auf Deutsch kann man dies ungefähr wie folgt wiedergeben: Er sei kein Jude, sondern eine Art Jude.

Der Fall Santos wirft zwei grundsätzliche Fragen auf: Wie kommt es, dass seine dreisten Lügen nicht schon viel früher aufgedeckt wurden? Und weshalb darf er trotzdem als Abgeordneter im Kongress sitzen?

Die erste Frage lässt sich wie folgt beantworten: Zunächst hat niemand Santos wirklich ernst genommen. Eine Wahl vor zwei Jahren hat er deutlich verloren. Der Bezirk schien zudem eine sichere Festung der Demokraten zu sein. Sein demokratischer Gegner hielt es daher nicht für nötig, Santos zu durchleuchten. Die regionalen Medien, die dies eigentlich ebenfalls hätten tun müssen, verfügen nicht mehr über die nötigen Mittel und Manpower.

Auch bei der eigenen Partei kümmerte sich niemand wirklich um Santos, zumal er auch die Unterstützung von Elise Stefanik, der Nummer drei bei den Republikanern im Abgeordnetenhaus, genoss. Dazu kam Glück: Ein Gericht des Bundesstaates New York annullierte die bisher gültige Einteilung der Wahlbezirke, der sichere Sitz der Demokraten wurde plötzlich nicht mehr so sicher.

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Scherzen mit Marjorie Taylor Greene.Bild: keystone

Die Antwort auf die zweite Frage ist banal: Kevin McCarthy, der republikanische Speaker des Repräsentantenhauses, ist auf jede Stimme angewiesen. Er kann es sich schlicht nicht leisten, Santos auszuschliessen, denn in einer Nachwahl würde mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Demokrat das Rennen machen. Santos ist daher nicht nur gewählt, sondern auch bestätigt.

Anders als der talentierte Mr. Ripley kann er jedoch sein erfundenes Leben nicht geniessen. Selbst die republikanischen Abgeordneten meiden ihn, ja die Führung der Grand Old Party (GOP) von New York fordert gar seinen Rücktritt. Verlässt er den Parlamentssaal oder sein Büro, wird Santos von einer Horde Journalisten gejagt, die von ihm wissen wollen, wann er zurücktreten werde.

Dazu kommt, dass auch die Strafbehörden auf Santos aufmerksam geworden sind. Bis 2022 hat er für eine windige Investmentfirma gearbeitet, die ihren Kunden überrissene Rendite-Versprechen abgegeben hat und die inzwischen von der Börsenbehörde geschlossen wurde. Rätselhaft ist zudem, wie Santos plötzlich 2022 ein Einkommen von mehr als einer Million Dollar ausweisen und davon 700’000 Dollar für seine eigene Kampagne spenden konnte. In Brasilien untersuchen die Behörden derweil einen Fall von Scheckbetrug, in den Santos verwickelt sein soll.

Auch die GOP wird mit ihrem Lügenbaron nicht wirklich glücklich. Er ist zum Symbol für den Zustand der Partei geworden. So schreibt David Brooks, Kolumnist bei der «New York Times»: «In gewisser Art und Weise ist Santos die traurige, verzerrte Version dessen, was Trump mit der Partei angestellt hat. Trump hat die GOP ins Land der Unwirklichkeit geführt, in den Kontinent der Lügen. Trumps Übernahme der GOP war nicht primär ideologisch bedingt, sondern psychologisch und moralisch. Ich habe Mitleid mit Santos, nicht aber mit Trump, denn dieser ist zu grausam. Aber Trump hat, in weit grösserem Ausmass, diese jämmerliche Note in unsere nationale Psyche eingehämmert.»

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67 Kommentare
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Massalia
16.01.2023 17:52registriert Juni 2021
Damit passt er ja in die GOP, die Partei der Lügner, Betrüger und Schwurbler.
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TanookiStormtrooper
16.01.2023 21:20registriert August 2015
Ich bin Jude = I'm jewish
Ich bin so etwas wie ein Jude = I'm jew-ish
Das man sich so peinlich aus einer Lüge herauswieselt ist schon fast komisch.
Die Schuld kann man aber einer Partei geben, die willens ist jeden noch so verrückten Freak aufzunehmen. Sei es der Orange Reality-TV-Fritze oder die irre kleine Blondine die Hauptsächlich durch Unwissen und rumbrüllen glänzt. Keiner ist zu bescheuert für die Republikanische Partei.
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Lordkanzler-von-Kensington
16.01.2023 21:00registriert September 2020
Ein Sack voll Straftaten, vorsätzlich aus niederen Beweggründen, nämlich sich Macht/Position zu ergaunern.
Lüge im Amt und unter Vereidigung, Amtsanmassung, Urkundenfälschung, falsche Angaben, Betrügereien.....
Wieso darf er im Amt bleiben? Er ist moralisch ungeeignet, nicht integer.
Wieso unternimmt niemand etwas? Gute Nacht GOP.
Man denkt immer, es kann nichts mehr getoppt werden......than somebody steps in "hold my beer"....wow
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