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Bibi Netanyahu hat ein Monster kreiert

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Bibi Netanyahu hat ein Monster kreiert

Der Donald Trump des Nahen Ostens riskiert eine Katastrophe für Israel und die Palästinenser.
04.11.2022, 12:0704.11.2022, 13:18
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Israel Netanyahu Wahl
Bild: Keystone/shutterstock/watson

Thomas Friedman ist geopolitischer Kommentator bei der «New York Times» und gehört zu den einflussreichsten Journalisten der Gegenwart. Seine Sporen hat er sich als Korrespondent im Nahen Osten abverdient. In Sachen Israel weiss er also Bescheid. Um die Bedeutung des Wahlsiegs von Benjamin Netanyahu auch Nicht-Nahost-Experten vor Augen zu führen, greift er in seiner jüngsten Kolumne zu folgendem Vergleich:

«Stellt euch vor, ihr wacht nach den Wahlen 2024 auf und stellt fest, dass Donald Trump wiedergewählt wurde, dass er Rudy Giuliani zu seinem Justizminister, Michael Flynn zu seinem Verteidigungsminister und Steve Bannon zu seinem Handelsminister ernannt hat. James Dobson, ein Führer der Evangelikalen, wird Erziehungsminister, Enrique Tarrio, Anführer der Proud Boys, wird zuständig für die innere Sicherheit und Marjorie Taylor Greene Sprecherin des Weissen Hauses.»

Friedman ist kein einsamer Rufer in der Wüste. In der liberalen Presse des Westens hat der Ausgang der israelischen Wahlen allgemeines Entsetzen ausgelöst. So kommentiert beispielsweise die «Financial Times» heute:

«Netanyahu hat ein Monster kreiert. Die entscheidende Frage wird sein, ob er sein politisches Geschick dazu benützt, die Extremisten, die er an die Macht holt, in den Griff zu bekommen. Wenn er bisher jeweils an der Macht war, dann hat er das Risiko gescheut; er ist ein Säbelrassler, aber vorsichtig in seinem Handeln. Die alarmierende Alternative jedoch ist die Tatsache, dass er den Geist aus der Flasche gelassen hat und damit eine Katastrophe für Israel und die Palästinenser riskiert.»

Was ist geschehen?

Vor 18 Monaten hat Netanyahu die Wahlen gegen eine bunt zusammengewürfelte Koalition der nationalen Einheit knapp verloren. Für den ehrgeizigen und machtbesessenen 73-jährigen Mann war dies nicht nur eine narzisstische Kränkung, es war auch eine Bedrohung. Nach wie vor ist ein Verfahren wegen Korruption gegen ihn hängig, das ihn potenziell ins Gefängnis bringen kann.

epa10280654 Former Israeli prime minister and leader of the Likud party Benjamin Netanyahu waves to supporters at the Likud party final election event in Jerusalem, Israel, 01 November 2022. EPA/ABIR  ...
Sieg dank Rechtsextremen: Benjamin Netanyahu.Bild: keystone

Die siegreiche Koalition der nationalen Einheit ist in diesem Sommer zerbrochen, die Israeli wurden einmal mehr zur Urne gerufen. Netanyahu setzte alle Hebel in Bewegung, wieder an die Macht zu kommen, und scheute vor den dreckigsten Tricks nicht zurück. Weil er wusste, dass er mit seiner Likud-Partei allein keine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, erringen konnte, verbündete er sich mit zwei extremen Parteien am äussersten rechten Rand – der Jewish Power Party und der Religious Zionism Party – und konnte die beiden zu einer Fusion bewegen.

Mehrheit dank Rechtsextremisten

Bis anhin waren diese beiden Parteien Parias in Jerusalem. Selbst konservative Politiker gingen auf Distanz, und sie hatten dafür gute Gründe. Itamar Ben-Gvir, der Führer der Jewish Power Party, beispielsweise, pflegte «Tod allen Arabern» zu skandieren.

Dank der Fusion wurden die beiden extremen Parteien, die bisher eine Randerscheinung der israelischen Politik waren, unverhofft salonfähig und zur drittstärksten Kraft. Zusammen mit Likud verfügen sind nun über 64 Stimmen in der 120-köpfigen Knesset.

Mit seiner in der Hölle geborenen Koalition führt Netanyahu Israel nun auf einen ultranationalistischen Pfad. Nicht nur die Zwei-Staaten-Lösung ist damit endgültig gestorben, es besteht gar die Gefahr, dass die Araber mit einem israelischen Pass ausgebürgert und ausgewiesen werden sollen. Dabei sprechen wir von 21 Prozent der Bevölkerung, die einen Fünftel der Ärzte, Krankenschwestern und Apotheker stellen.

Damit nicht genug. Netanyahus extreme Koalitionspartner wollen auch die Westbank vollständig annektieren. Gleichzeitig werden sie alles unternehmen, um die Medien und auch den Obersten Gerichtshof politisch kontrollieren zu können. Mit anderen Worten: Sie ahmen nach, was Viktor Orban in Ungarn vorexerziert hat, angereichert mit offenem Rassismus gegen die Palästinenser.

Supporters of Benjamin Netanyahu, former Israeli Prime Minister and the head of Likud party celebrates the first exit poll results for Israel's election, at the Likud party headquarters in Jerusa ...
Jubeln: die Anhänger von Netanyahu.Bild: keystone

Abgesehen von massiven Unruhen im Innern und den Palästinensergebieten riskiert Israel damit eine aussenpolitische Isolation. Die Freundschaft mit der Schutzmacht USA wird auf eine harte Probe gestellt werden. Senator Bob Menendez, ein Demokrat und Vorsitzender des aussenpolitischen Ausschusses, soll Netanyahu bereits im Wahlkampf gewarnt haben, dass eine Regierung mit Rechtsextremisten die überparteiliche Unterstützung aus Washington «ernsthaft gefährden» könnte.

Auch die dank des Abraham-Abkommens neu gewonnenen Freunde im Nahen Osten – Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – könnten sich wieder von Israel abwenden.

Bibi Netanyahu ist öfters mit Donald Trump verglichen worden. Israel wird gelegentlich als Versuchslabor, auch für die amerikanische Politik, bezeichnet. Netanyahus Sieg ist daher ein Schock, nicht nur für Israel. Nochmals Tom Friedman:

«Ich hatte gehofft, dass 2021 eine nationale Koalition der Einheit ein Vorbote für mehr Überparteilichkeit auch bei uns sein könnte. Alas, diese Regierung ist zerbrochen und wird nun durch eine so weit rechts stehende Regierung ersetzt, wie sie Israel noch nie gekannt hat. Sollte dies ein Vorbote sein für das, was uns erwartet – dann gnade uns Gott.»
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Die Israel-Palästina-Eskalation im Mai 2021 in Bildern
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Die Israel-Palästina-Eskalation im Mai 2021 in Bildern
Der Nahostkonflikt in Israel und in den Palästinensergebieten ist wieder aufgeflammt. Auslöser war dieses Mal ein Gerichtsstreit über ein Wohnquartier. Nach gewaltsamen Protesten eskalierte die Lage, die Hamas begann mit Raketenbeschuss, die israelische Luftwaffe antwortete mit Luftschlägen. Die Folge letzterer sieht man hier im Bild, aufgenommen in Gaza City am 11. Mai.
quelle: keystone / mohammed saber
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«Ich schlafe kaum» – ein Palästinenser in Haifa über sein Leben in Israel
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123 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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P.Rediger
04.11.2022 12:41registriert März 2018
Tja, wenn das nationalistische Gesocks aus den Löchern kriecht. Wir lernen es einfach nicht, weder aus unserer Geschichte, noch aus Vernunft. Zum übergeben.
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Bäretätzli
04.11.2022 12:24registriert Oktober 2021
Ich wiederhole mich: Give us a break 😩
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Demetria
04.11.2022 17:42registriert März 2020
Putin, Trump, Bush Junior, Erdogan, Modi, Bolsanaro, die Clown Truppe um Boris Johnson, Abe, Blocher, Radjapaksa, damals noch der Heider in Österreich, Prayut Chan-o-cha, alle paar Jahre wieder mal Berlusconi, Mursi und As-Sisi, Asad... und nun wieder mal der Bibi die alte Pfeife.

Das sind jetzt 20 Jahre nix als Rechtsextreme Boomer rund um den Planeten und es wird immer schlimmer. Wie langes soll das eigentlich noch gehen? Wenn man Typen wie Gerhard Schröder und die Clintons noch zu den Guten zählen muss, dann ist echt etwas schief gegangen. Die fackeln uns echt alles unter dem Hintern ab.
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