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Atomkrieg? Warum wir nicht auf Putins Atom-Bluff hereinfallen sollten

Canopus, Atompilz, französischer Atomtest auf Fangataufa, 1968
Bild: Imgur
Analyse

Warum wir nicht auf Putins Atom-Bluff hereinfallen sollten

Der Ukraine-Krieg kann auch ohne nukleare Eskalation beendet werden.
17.10.2022, 16:2717.10.2022, 16:28
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Bill Maher ist ein berühmter linksliberaler amerikanischer Comedian. In seiner letzten Sendung fragte er sich jedoch besorgt, ob die USA wirklich einen Atomkrieg riskieren sollten, nur um zu entscheiden, ob die Provinzen Luhansk und Donezk zu Russland oder der Ukraine gehören.

Maher greift damit ein Thema auf, das linke und rechte Putin-Versteher von Yanis Varoufakis über Tucker Carlson bis Roger Köppel seit Wochen predigen: Die Ukraine ist uns keinen Atomkrieg wert – und damit meinen sie implizit: Gebt Putin, was er will.

Die Putin-Versteher wollen, dass wir in eine plumpe Falle tapsen, die der russische Präsident dem Westen gestellt hat. Oder wie es Andrij Sahorodnjuk, der ehemalige Verteidigungsminister der Ukraine, in «Foreign Affairs» ausdrückt: «Viele Menschen fürchten, dass Putin seine Drohung, Atomwaffen einzusetzen, wahr machen könnte. Aber der Westen kann Putin so einschüchtern, dass er davon abgehalten wird, sich ernsthaft einen solchen Angriff zu überlegen.»

Sinnbild einer atomaren Apokalypse ist der legendäre Film «Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb» von Stanley Kubrick. Dieser Film wurde 1964 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und unter dem Eindruck der Kuba-Krise gedreht. Es ist eine Satire, in der ein verrückt gewordener amerikanischer General einen Angriff auf die Sowjetunion befiehlt. Am Ende reitet ein Bomberpilot cowboymässig auf einer Atombombe und löst damit die Apokalypse aus.

Miss Foreign Affairs, Alias Tracy Reed aus Dr. Strangelove or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, 1964. Stanley Kubrick film atombombe pinup model https://medium.com/@jonathanmiller_8860 ...
Tracy Reed, die Hauptdarstellerin aus Stanley Kubricks Klassiker «Dr. Strangelove». Bild: medium.com

Ein in die Enge getriebener Putin könne ebenfalls durchdrehen, befürchten nun die Bill Mahers und Roger Köppels dieser Welt, denn tatsächlich wird Putin militärisch zunehmend in die Enge getrieben. Eine wachsende Schar von Militärexperten hält seinen Krieg gegen die Ukraine bereits für verloren. Zudem hat der russische Präsident schon mehrmals mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht und betont, das sei «kein Bluff».

Wir sollten uns weder von den Drohungen des russischen Präsidenten noch von den Untergangs-Propheten ins Bockshorn jagen lassen. «Das Bild vom Atompilz als Schlusspunkt dieser Geschichte erzeugt Angst und behindert klares Denken», stellt Timothy Snyder in einem von der NZZ veröffentlichten Essay fest. «Der Fokus auf dieses Szenario verhindert, dass wir sehen, was tatsächlich passiert, und dass wir uns auf wahrscheinlichere Szenarien vorbereiten.» Snyder ist Geschichtsprofessor an der Yale University und gilt als führender Osteuropa-Experte.

Von einem nuklearen Angriff kann sich Putin tatsächlich nichts erhoffen. Geopolitisch würde er riskieren, dass ihm selbst seine wichtigsten Verbündeten China und Indien die kalte Schulter zeigen. Schon als es kürzlich in der Uno um die Anerkennung der russischen Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete ging, spielten die beiden nicht mehr mit.

Auch mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen kann Putin eine drohende Niederlage kaum mehr abwenden. Selbst das Zünden einer kleinen Atombombe würde keinen entscheidenden Unterschied machen. «Es gibt keine bedeutsamen Ansammlungen von ukrainischen Soldaten oder ukrainische Ausrüstung, die ins Visier genommen werden kann, da die Ukraine sehr dezentral kämpft», wie Snyder festhält.

Militärisch würde der Einsatz einer solchen Bombe zudem nur dann Sinn machen, wenn gut geschützte und ausgerüstete russische Truppen danach sofort in das zerstörte Gebiet vorstossen könnten. Genau dies können die demoralisierten und schlecht ausgerüsteten Soldaten derzeit gar nicht leisten.

epa10248546 Rescuers and police officers work at the site of shelling in downtown Kyiv (Kiev), Ukraine, 17 October 2022, amid the Russian invasion. Several residential buildings were damaged as a resu ...
Brennende Häuser in Kiew. Bereits terrorisiert Putin die zivile Bevölkerung.Bild: keystone

Seit dem Angriff auf die Brücke, welche die Krim mit Russland verbindet, setzt ein frustrierter Putin wieder auf Terror gegen die Zivilbevölkerung. Ein Einsatz einer Atombombe gegen eine Stadt in der Ukraine wäre die schreckliche Fortsetzung dieses Terrors, doch er wäre sinnlos. Die Führung der Ukraine hat mehrmals betont, dass auch dies den Widerstand der Soldaten und der Bevölkerung nicht brechen würde.

Schliesslich würde ein Einsatz einer Atomwaffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine heftige Reaktion der Nato zu Folge haben. Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden, hat schon vor Wochen öffentlich erklärt, die USA hätten den Russen klargemacht, wie sie darauf reagieren würden. Es würde verheerend sein für die Russen – und ja, auch das sei kein Bluff.

Das Argument, ein frustrierter Putin würde nach dem Motto «Nach mir die Sintflut» einen atomaren Weltuntergang in Gang setzen, ist wenig wahrscheinlich. «Wenn Frustration über eine Niederlage ein Motiv für den Einsatz von Atomwaffen wäre, wäre dies bereits geschehen», so Snyder. «Das ist aber nicht der Fall. Es gab kaum etwas Demütigenderes als die russische Niederlage vor Kiew.»

Vielleicht sitzt Putins Feind auch bald nicht mehr in Kiew. Snyder spielt mit der Hypothese, wonach der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin, der Chef der Söldner-Truppe Wagner, einen Staatsstreich anstreben. Sie würden bewusst gegen die militärische Führung hetzen, ihre eigenen Männer jedoch für einen kommenden innenpolitischen Machtkampf schonen, spekuliert Snyder.

Ramzan Kadyrov, leader of the Russian province of Chechnya gestures speaking to about 10,000 troops in Chechnya's regional capital of Grozny, Russia, Tuesday, March 29, 2022. (AP Photo)
Hetzt gegen die russischen Generäle: der Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow.Bild: keystone

Seit Putin keine TV-wirksame «militärische Spezialoperation» mehr führt, sondern die Söhne russischer Mütter in die Schlacht wirft, wackelt auch seine Position im Kreml und mögliche Nachfolger bringen sich in Position. «Sollte dieses Szenario eintreten, braucht Putin gar keinen Vorwand mehr, um sich aus der Ukraine zurückzuziehen – er wird dies für sein eigenes politisches Überleben tun», so Snyder.

Andrij Sahorodnjuk gibt sich derweil siegessicher. Der Ex-Verteidigungsminister ist überzeugt, dass es der ukrainischen Armee gelingen wird, die Russen nicht nur aus dem Donbass, sondern auch von der Krim zu vertreiben. Der Westen dürfe sich deshalb auf keinen Fall von Putins Atom-Bluff einschüchtern lassen, betont er. Stattdessen solle er der Ukraine genügend Waffen liefern. «Angesichts der sich häufenden Rückschläge wird die Moral der russischen Truppen zusammenbrechen und die Soldaten werden nach Hause fliehen», so Sahorodnjuk.

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283 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mr. Pingu
17.10.2022 15:53registriert Oktober 2022
Wir können Putin nicht geben was er will. Ansonsten wird auch China mit Atombomben drohen, wenn sie Taiwan nicht erhält, Nordkorea mit Atombomben drohen, wenn sie Südkorea nicht erhält etc... dann werden Atombomben verkauft, damit andere Länder ebenfalls mittels Atombomben Androhung andere Länder annektieren können. Prinzipiell muss dann jedes Land Atombomben besitzen, um sich vor der Androhung eines Atomkrieges schützen zu können. Russland nachzugeben würde die Büchse von Pandora öffnen.

Russland muss verlieren, ganz egal was es kostet. Ansonsten gibt es auf der Welt nur noch Terror.
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45rpm
17.10.2022 15:40registriert August 2016
Was zum Beispiel die amerikanischen Putin Versteher auch verstehen sollten, wenn der Westen ihm die Ukraine schenkt, wieso sollte er sich nicht als Nächstes Alaska zurückholen?
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NicksName
17.10.2022 16:10registriert November 2017
Liebes Watson-Team, könntet Ihr bitte in Zeiten wie diesen darauf verzichten, ein grosses Bild eines Atompilzes als Headline auf die Startseite zu stellen? Danke.

(Besonders, wenn dann der Artikel zu Recht absolute Entwarnung gibt.)
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