Als Michael Cohen, Trumps Ex-Anwalt, bei einem Hearing im Kongress auftrat, erklärte er, dass sein ehemaliger Chef niemals direkte Befehle erteile. Stattdessen gebe Trump vage Anweisungen, deren Bedeutung jedoch allen klar sei.
Im Englischen nennt man dies «dog whistle». Wie bei der Hundepfeife werden die Signale von denen verstanden, die sie verstehen müssen.
Eine der bekanntesten verschlüsselten Botschaften an seine Fans war Trumps berüchtigte Birther-Kampagne gegen Barack Obama. Seine Behauptung, der 44. US-Präsident sei nicht in Hawaii, sondern in Kenia geboren worden und daher kein legitimer Präsident, war offensichtlich falsch. Doch die Trump-Fans wussten, was gemeint war: Obama ist ein Schwarzer und muss weg.
Trumps jüngstes Dog-Whistle-Signal lautet wie folgt: «We will never concede.» (Wir werden niemals nachgeben). Der scheidende Präsident hat in mehreren Videos die Gewalt vom 6. Januar bedauert und auch verurteilt. Er hat jedoch noch nie Joe Bidens Sieg anerkannt. Seine Anhänger schliessen daraus, dass ihr Führer zwar Lippenzugeständnisse macht, weil sich dies nun mal nicht vermeiden lässt, dass er ihnen jedoch gleichzeitig mitteilt, dass der Kampf weitergehen soll.
Diesmal wird die Botschaft auch von den Sicherheitskräften ernst genommen. Polizei und FBI sind in Alarmstimmung. 10’000 Soldaten der Nationalgarde sind bereits in der US-Hauptstadt einmarschiert. Das sind mehr «boots on the ground» als in Irak, Afghanistan und Syrien. Nochmals so viele werden am 20. Januar erwartet. Dann findet Joe Bidens Inaugurationsfeier statt.
Dieser Sicherheitsaufwand ist nicht übertrieben. Sicherheitsexperten schätzen, dass rund 15 Millionen Trump-Anhänger bereit sind, Gewalt anzuwenden. Das FBI hat schon länger einheimische Terroristen als grösste Gefahr für das Land bezeichnet.
Die einheimischen Milizen konnten sich lange Zeit ungestört ausbreiten. Das Budget zu ihrer Bekämpfung wurde zwischen 2017 und 2019 von 21 auf weniger als 3 Millionen Dollar reduziert, wie das Magazin «The New Yorker» meldet. Diese Milizen bestehen längst nicht mehr aus übergewichtigen weissen Männern, die keine Frauen finden. Videos des Sturms auf das Kapitol zeigen, wie gut ausgerüstete fitte Männer in Militäranzügen sehr gezielt durch die Massen schreiten und den Aufstand orchestrieren.
Die gewaltbereiten Trump-Anhänger lassen sich grob in drei sich überschneidende Obergruppen einteilen. Am Harmlosesten sind die gewöhnlichen Männer und Frauen, die wegen der permanenten Wiederholung der «grossen Lüge» – die falsche Behauptung, Trump habe die Wahlen gewonnen – inzwischen auch tatsächlich daran glauben und deswegen ausser sich vor Wut sind.
Die zweite Gruppe sind die QAnon-Anhänger, eine Sekte, die der absurden Verschwörungstheorie huldigt, eine Elite von Demokraten und Hollywood-Stars trinke das Blut von getöteten Kindern und wolle die Weltherrschaft an sich reissen. In Trump sehen sie den Erlöser, der sie vor dieser Gefahr retten wird.
Die QAnon-Anhänger waren beim Sturm auf das Kapitol zahlreich vertreten. Am bekanntesten ist das Bild des «Schamanen», der in Wikingermontur und Indianerbemalung für die Fotografen posierte. (Inzwischen ist er im Knast und seine Mutter klagt, dass er dort kein biologisches Essen erhält.)
Die Wahl von Joe Biden schien zunächst für die QAnon-Anhänger ein fataler Schlag zu sein. Ihr «Plan» hatte nämlich vorgesehen, dass Trump die Wahlen gewinnen und der kinderfressenden Elite dann den Garaus machen würde.
Doch inzwischen gibt es bereits einen neuen «Plan». Hinter dem Sturm aufs Kapitol stünden gar nicht Trump-Terroristen, so die neue Einschätzung, sondern die linksextreme Antifa. Deshalb gelte es nun, die Demokraten so rasch als möglich wieder aus dem Weissen Haus zu jagen.
So irr die Thesen von QAnon auch scheinen mögen, sie haben grosse Verbreitung gefunden. Twitter allein hat in den letzten Tagen rund 70’000 QAnon-Konten gelöscht.
Die dritte Obergruppe bilden die Milizen, bestehend aus meist weissen Männern. Bisher handelte es sich dabei um lokale Gruppen, die nur lose verbunden waren. Dazu zählen auch ein paar durchgeknallte Neonazis und Ku-Kux-Klan-Anhänger.
Am gefährlichsten jedoch sind die Proud Boys, die Oath Keepers und die Boogaloo-Bewegung. In all diesen Gruppen sind Männer versammelt, die der extremen Rechten angehören, die sich als Avantgarde verstehen und die aktiv versuchen, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Wie alle Bewegungen dieser Art haben diese Gruppierungen teils ideologische Unterschiede. Doch im Kampf um das Weisse Haus haben sie diese Unterschiede vorübergehen beiseite gelegt.
Was genau am kommenden Wochenende und bei der Inauguration am Mittwoch abgehen wird, ist unklar. Ein erneuter Sturm auf das Kapitol ist angesichts der getroffenen Sicherheitsmassnahmen unwahrscheinlich. Das Gewalt-Potenzial ist jedoch gewaltig. Auf einer FBI-Liste einheimischer Terroristen sind Hunderttausende Namen aufgelistet. Die «Washington Post» hat vermeldet, dass sich Dutzende von ihnen am 6. Januar in Washington aufgehalten haben. Anschläge in einzelnen Bundesstaaten sind sehr wohl möglich.
Unter dem Druck der rechtsextremen Gruppen radikalisiert sich auch die Grand Old Party (GOP). Bereits befinden sich in den Reihen der republikanischen Abgeordneten zwei Anhängerinnen von QAnon, Marjorie Taylor Green und Lauren Boebert. Taylor Green will bereits am ersten Tag nach der Inauguration ein Impeachment-Gesuch gegen Präsident Biden einreichen.
Andere Abgeordnete der GOP gebärden sich immer wilder. Während der Belagerung haben sie sich geweigert, Masken zu tragen. Nun wollen sie nicht durch einen Metalldetektor schreiten, der allfällige Schusswaffen entdecken soll.
Vor allem schiessen sie sich gnadenlos auf vermeintliche Verräter ein, derzeit auf Liz Cheney. Die Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten hat sich zusammen mit neun weiteren republikanischen Abgeordneten für ein Impeachment gegen Trump ausgesprochen. Deswegen soll sie nun sofort aus dem Führungsgremium der GOP entfernt werden.
Für die Trump-Terroristen war der Sturm aufs Kapitol erst der Anfang. Die Dog-Whistle-Botschaft ihres Führers ist angekommen. «Die offensichtlichste Konsequenz der letzten Woche ist die Tatsache, dass die Rechte ermutigt ist, nach Washington zurückzukehren», stellt Keeanga-Yamahtta Taylor im «New Yorker» fest.