Er könnte bei hellem Tageslicht jemanden auf der Fifth Avenue in New York erschiessen, und das würde seiner Beliebtheit nicht den geringsten Abbruch tun, lautet das vielleicht bekannteste Zitat von Donald Trump. Es ist auch eines der wenigen, das keine Lüge ist. Zwei Impeachment- und zahlreiche Gerichtsverfahren, Russland-Affäre, offensichtliche Ausnutzung des Amtes für persönliche Bereicherung, Schweigegeld an einen Pornostar – nichts, aber auch gar nichts hat dem Ex-Präsidenten bisher etwas anhaben können.
Trump ist es gelungen, innert Jahren die einst stolze Grand Old Party (GOP) in einen Haufen von Speichelleckern zu verwandeln. Selbst die vermeintlich mächtigen Parteioberen kriechen zu Kreuze und getrauen sich höchstens anonym, Kritik zu üben.
Dabei hat Trump nicht nur das Weisse Haus, sondern auch den Senat und das Abgeordnetenhaus an die Demokraten verloren. Er hat dafür gesorgt, dass die USA weltweit zu den Ländern gehören, die am meisten Covid-Tote zu beklagen haben. Er hat den Amerikanern geraten, Desinfektionsmittel zu schlucken. Er hat die USA beinahe aus der Nato gerissen und das Pariser Klima-Abkommen aufgekündigt, ebenso das Atom-Abkommen mit dem Iran. Er hat einen Handelskrieg mit China angezettelt, der den Amerikanern mehr weh tut als den Chinesen. Schliesslich hat er die älteste Demokratie der Welt mit seiner Big Lie schwer beschädigt und ein Land hinterlassen, das sich am Rande eines Bürgerkrieges befindet.
Abgesehen davon hat Trump einen brillanten Leistungsausweis.
Mark Leibovich gehört zu den erfahrensten Polit-Journalisten der USA. Er war via «Washington Post» «Time» und «New York Times» bei allen amerikanischen Printmedien tätig, die Rang und Namen haben. Heute arbeitet er für den «Atlantic». Nun hat er ein Buch mit dem Titel «Thank You for Your Servitude» veröffentlicht. Obwohl es weder «Breaking News» noch «Bombshells» enthält, ist es das bisher beste Buch über Trump.
Leibovich greift das eingangs erwähnte Zitat auf und malt sich aus, was passieren würde, sollte Trump tatsächlich jemanden auf offener Strasse erschiessen. Folgendes Szenario würde sich abspielen:
Trump würde sofort behaupten, er habe in Notwehr gehandelt. Sein Opfer sei in Wirklichkeit ein Täter, es habe sich um einen Demonstranten gehandelt, der ihn belästigen wollte. Er habe nur sein Recht eines friedfertigen Bürgers und Besitzers einer Waffe ausgeübt und habe überhaupt nichts Falsches getan.
Sogleich würden sich die konservativen Medien auf die Hatz machen und herausfinden, dass der Tote möglicherweise vor Jahren einmal an einer Black-Lives-Matter-Demonstration teilgenommen hatte. Das würde Fox News reichen, ihn als «gefährlichen radikalen Protestbruder» darzustellen. Auf die sozialen Medien würde ein Blizzard mit ähnlichen Verunglimpfungen niederprasseln. Don Jr. würde einige davon liken.
Fox-News-Moderator Sean Hannity würde die Schuld am Vorfall einer «radikalen Woke-Polizei» in die Schuhe schieben, Senator Ted Cruz den Demonstranten. Die trauernden Familien des Opfers würden mit Todesdrohungen überflutet. Trump würde derweil an seiner nächsten Rallye mit einer neuen Rekord-Zuschauerzahl prahlen und erklären, er werde mit aller Macht gegen diesen neuerlichen «Witz» ankämpfen. Die Mehrheit der Republikaner würde weiterhin loyal hinter ihm stehen.
Was Leibovich als Gedankenspiel inszeniert, setzen Trump, die GOP und Fox News mit den Hearings eins zu eins in Realität um. Nach dem bisher letzten Hearing des Ausschusses zur Abklärung des Sturms auf das Kapitol spielten Sean Hannity & Co. das gesamte Programm durch. Es sei verschwiegen worden, dass Trump seine Anhänger aufgefordert habe, «friedfertig» zu protestieren. Nancy Pelosi, demokratische Mehrheitsführerin im Abgeordnetenhaus, hätte für Sicherheit sorgen müssen, oder die Polizei des Kapitols, lautete der Tenor, der darin gipfelte, das Ganze sei ein Schauprozess à la Stalin.
Cassidy Hutchinson, die ehemalige Assistentin des Stabschefs Mark Meadows, hat mit ihrer Zeugenaussage grosses Aufsehen erregt. Natürlich wird sie nun tonnenweise mit Schmutz beworfen. Das sei alles nur Hörensagen, wird ihr vorgeworfen. Und überhaupt, das alles sei völlig unbedeutend. Das Einzige, was die Amerikanerinnen und Amerikaner derzeit interessiere, sei die Inflation und der Benzinpreis.
Werden also die Hearings das gleiche Schicksal erleiden wie zuvor schon der Mueller-Report und die Impeachmentverfahren? Wird es einmal mehr, um es mit Shakespeares «Macbeth» auszudrücken, eine Geschichte werden, die «voll Lärm und Wut» ist, die aber nichts zu bedeuten hat?
Es muss nicht so sein. Die äusserst professionell inszenierten Hearings fördern zwar wenig eigentliche News zutage. Sie haben jedoch unmissverständlich klargemacht, dass die Ereignisse vom 6. Januar 2021 tatsächlich ein versuchter Staatsstreich waren und dass Trump diesen Staatsstreich wollte und nichts unternahm, um ihn zu stoppen.
Der Ex-Präsident hat weder die Nationalgarde noch das FBI angefordert, er hat weder den Verteidigungs- noch den Justizminister informiert. Stattdessen hat er versucht, im letzten Moment republikanische Senatoren davon zu überzeugen, die Zertifizierung von Joe Bidens Wahl zu verhindern, und er hat – während der Sturm aufs Kapitol bereits in vollem Gange war – den Mob mit einem Tweet zusätzlich gegen seinen Vize Mike Pence aufgehetzt.
Diese Fakten zeigen allmählich Wirkung. In der «New York Times» haben mehrere pensionierte Generäle und Admirale in einem Gastkommentar im Detail erklärt, wie Trump seine Pflichten als Präsident vernachlässigt hat. Im Senat zeichnet sich die Zustimmung zu einem Gesetz ab, das verhindern soll, dass Elektorenstimmen im letzten Moment missbraucht werden können.
Auch bei den Bürgerinnen und Bürgern macht sich ein Stimmungswandel bemerkbar. Er mag noch bescheiden sein. Trumps Zustimmungsrate ist von einst 46 auf 42 Prozentpunkte gesunken. Gleichzeitig ist nun eine Mehrheit der Amerikaner und Amerikanerinnen der Meinung, Trump müsse strafrechtlich verfolgt werden.
Trotzdem: Die Hearings haben dafür gesorgt, dass die Stimmung langsam, aber sicher kippt. Als politisches Gremium kann der Ausschuss der Würgeschlange Trump jedoch den Kopf nicht abschlagen. Das ist die Aufgabe der Justiz. Höchste Zeit also, dass Justizminister Merrick Garland eine Strafuntersuchung gegen den Ex-Präsidenten einleitet.
Eine Mehrheit der Amerikaner und Amerikanerinnen hat Trump gar nicht erst gewählt.
In der Mehrheit zu sein, reicht in den USA schon lange nicht mehr..
Trump ist wie die FIFA. Das Handeln im Graubereich wurde jahrzehntelang eingeübt.