Nach 20 Jahren und mindestens einer Billion Dollar ist Schluss. Die US-Armee zieht sich aus Afghanistan zurück und noch bevor die letzten Soldaten ausgereist sind, haben die Taliban die Macht schon wieder übernommen. «Mission failed», würde man in den Staaten dazu sagen.
Die US-Amerikaner sind jedoch nicht die Ersten, die in Afghanistan versagten. Grossbritannien hat es im 19. und 20. Jahrhundert dreimal probiert, die Sowjetunion führte in den 80er-Jahren fast 10 Jahre vergeblich Krieg gegen den Vielvölkerstaat. Ausser einer Spur der Verwüstung haben sie nichts hinterlassen.
Doch wieso scheitern drei der grössten militärischen Mächte kläglich daran, ein spärlich besiedeltes Land mit rund 39 Millionen Einwohnern einzunehmen? Die Antworten dazu sind mannigfaltig, die naheliegendste dürfte jedoch in der Geografie des Landes stecken. Afghanistan ist nämlich kaum mehr als ein geografischer Ausdruck. Ein Land, dessen Grenzen 1893 willkürlich gezogen wurden, ohne dass sie je eine afghanische Regierung ratifiziert hätte.
Innerhalb dieser Grenzen leben 14 verschiedene ethnische Gruppen und noch viel mehr Stämme und Clans. Unter diesen verschiedenen Gruppen befinden sich zum Beispiel die Usbeken, Tadschiken und die Paschtunen, deren Siedlungsgebiet sich hauptsächlich ausserhalb Afghanistans befindet. So machen die Paschtunen rund 50 Prozent der heutigen afghanischen Bevölkerung aus, die afghanisch-pakistanische Grenze zieht sich mitten durch das Siedlungsgebiet der 60 Millionen Paschtunen. Zwei Drittel der Paschtunen leben deswegen östlich der Grenze in Pakistan. Dort sind sie eine Minderheit.
Und so halten die Paschtunen auch nicht sehr viel von dieser Grenze im Osten des Landes, die durch sehr schwer zugängliches, gebirgiges Terrain verläuft. Sowieso existiert diese Grenze eigentlich nur auf Papier. Dementsprechend einfach war es bis anhin für die Paschtunen, aber auch für Rebellengruppen oder die Taliban, die Grenzen zu passieren, wenn es einmal brenzlig wurde im eigenen Land.
Bestes Beispiel dafür ist Osama bin Laden, dem in der Schlacht um Tora Bora an der afghanisch-pakistanischen Grenze 2001 die Flucht nach Pakistan gelang. Dort hielt er sich bis zu seinem Tod im Jahr 2011 in einem Haus in Abbottabad versteckt.
Es gibt mindestens 235 Grenzübergänge durch das Gebirge. Geld, Waffen und Nachschub konnten so bislang ohne weiteres über die Grenzen geschmuggelt werden. Kommt hinzu, dass viele der Paschtunen in Pakistan sich den Taliban zugehörig fühlen. Im Juni 2021 hat die pakistanische Regierung jedoch damit begonnen, dem unkontrollierbaren Grenzverkehr einen Riegel vorzuschieben. Ein Grenzzaun wurde an der gesamten Grenzlinie gezogen und die Anzahl Grenzübergänge auf 16 reduziert.
Nichtsdestotrotz steht Pakistan seit jeher im Verdacht, die Taliban mit Geld und Waffen zu unterstützen. Dabei ist es ihnen ein Leichtes, dieses über die Grenzen zu schmuggeln. Zum Beispiel über den Chaiber-Pass, doch dazu später mehr.
Zuerst ein Blick auf die Karte: Afghanistan ist ein Binnenstaat, hat also keinen Zugang zum Meer. Um ins Land einzumarschieren, braucht es die Mithilfe mindestens eines angrenzenden Staates. Davon gibt es sechs, welche allesamt nicht zu den besten Freunden westlicher Mächte zählen: Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, China und Pakistan.
Schafft man es an die Grenze Afghanistans, steht man vor dem vielleicht grössten Problem: den schier unüberwindbaren Bergen des Hindukuschs. 75 Prozent des Landes sind davon bedeckt (zum Vergleich: In der Schweiz machen die Alpen rund 58 Prozent der gesamten Fläche aus), die Hälfte des Landes liegt auf über 2000 Metern.
Der Hindukusch fungiert dabei – ähnlich den Schweizer Alpen im Zweiten Weltkrieg – als Reduit, ein natürlicher Rückzugsort gespickt mit engen Pässen. Doch die Berge bieten nicht nur Schutz vor Eindringlingen, sie haben auch dafür gesorgt, dass die Gemeinschaften innerhalb des Hindukuschs mehrheitlich abgeschieden voneinander leben. In den über 100 Tälern zwischen den bis zu 7000 Meter hohen Bergspitzen leben unzählige Stämme und Clans.
Diese haben über die Jahrhunderte hinweg ihre eigenen Lebenswelten geschaffen, mit ihren eigenen Stammesführern, Glaubensformen und Traditionen. So etwas wie ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, einen afghanischen Patriotismus, gibt es praktisch nicht.
Die isolationistischen Clans und Stämme in den Tälern des Hindukusch lehnen jegliche Formen von fremder Autorität ab. Als bestes Beispiel muss hier das Kurangal-Tal, auch als Tal des Todes bekannt, erwähnt werden. In der preisgekrönten Dokumentation «Restrepo» begleiten zwei Journalisten die Soldaten in der Sandsackfestung «Restrepo». 15 Monate lang.
Dabei wird einem die Sinnlosigkeit des US-Unterfangens bewusst. Eingepfercht in das 10 Kilometer lange und 10 Kilometer breite Tal kämpfte man gegen unsichtbare Feinde, die einige hundert Höhenmeter über ihnen, auf der anderen Seite des Tals, auf die Soldaten feuerten. Die Sowjets waren hier nie weitergekommen als bis zum Eingang des Tals, die Taliban hatten sich gar nicht erst hineingewagt. «Zu abgelegen, um erobert werden zu können, zu arm, um sich einschüchtern, zu autonom, um sich kaufen zu lassen», fasste es eine Journalistin der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» einmal treffend zusammen.
Die Zentralregierung in Kabul hat also seit jeher einen schweren Stand, das gesamte Land zu regieren. Sie hat zwar auf dem Papier die Macht über das gesamte Staatsgebiet, de facto verwalten sich die Stämme in den Tälern des Hindukuschs aber selbst.
Jede fremde Macht, die Afghanistan einnehmen will, sieht sich also mit den gleichen Problemen wie lokale Führungsfiguren konfrontiert: Kontrolle über das ganze Staatsgebiet ist und bleibt eine Illusion. Afghanistan als Land ist ein Konstrukt westlicher und sowjetischer Geopolitik. Jede afghanische Regierung war bis anhin das direkte Resultat einer Einmischung von fremden Mächten.
Sie alle haben es zwar geschafft, Marionettenregierungen in Kabul zu installieren (2004 wurden sogar demokratische Wahlen abgehalten), doch direkt nach Verlassen des Landes sind diese wieder wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Das hat auch mit der Infrastruktur in den Bergen zu tun: Um seine Autorität im ganzen Land durchzusetzen, muss man seine Truppen und die Versorgung derer in alle Täler bringen, durch enge Passagen und über ungeteerte Passstrassen. Diese engen Korridore in den Bergen fungieren dabei als Nadelöhre, in denen ohne viel Aufwand Hinterhalte organisiert und durchgeführt werden können.
Da wäre zum Beispiel der bereits angesprochene Chaiber-Pass, der wichtigste Bergpass zwischen Pakistan und Afghanistan. Die amerikanischen und die NATO-Truppen haben zeitweise fast alle ihre Soldaten und ihr Material über diesen Pass von Pakistan nach Afghanistan gebracht. Im Jahr 2009 sprengten militante Gruppen jedoch Brücken am Pass und die gesamte Versorgungskette kollabierte. Der Chaiber-Pass war unüberquerbar. Die NATO und die Amerikaner mussten auf die zentralasiatischen Nachbarstaaten ausweichen.
Summa summarum: Es ist nicht sonderlich schwer, die Regierung in Kabul zu stürzen, wenn man dies will. Aber es ist fast unmöglich, die Autorität im gesamten Land zu halten beziehungsweise überhaupt zu etablieren aufgrund von Afghanistans geografischer und ethnischer Realität. Ob die Taliban es nun als Erste schaffen werden, entgegen aller Widrigkeiten das Land von Kabul aus steuern zu können, wird sich zeigen müssen. Einen entscheidenden Vorteil gegenüber den USA haben sie: Die Taliban geniessen in vielen Orten das Vertrauen der Bevölkerung.
- viele Berge
- jedes Tal denkt es sei besser als der Rest
- Befehle von oben werden konsequent ignoriert
Also eine asiatische Version der Schweiz :)
Sollen sie isoliert leben. Man einigt sich darauf das wir sie in Ruhe lassen und umgekehrt. Ende gut alles gut.