100 Tonnen: So viel Fisch soll in den vergangenen Tagen in der Oder verendet sein. Von Tag zu Tag hat die Umweltkatastrophe grössere Ausmasse angenommen. Die wichtigste Frage: Was hat zu dem Massensterben geführt? Bis heute lässt sie sich nicht mit Sicherheit beantworten.
Auf der Suche nach der Wahrheit stellen sich den Forschenden und Behörden mehrere Hindernisse in den Weg. Die einen sind ökologischer Natur, die anderen organisatorischer. Und es gibt beunruhigende neue Fakten.
Am Dienstag veröffentlichte das Brandenburger Landesumweltamt erste Laborergebnisse, rund eine Woche, nachdem das Fischsterben in der Oder auf deutscher Seite öffentlich geworden war. Die Tests hätten keine besonders hohen Werte für Metalle wie Quecksilber gezeigt, teilte der Sprecher des Umweltministeriums, Sebastian Arnold, auf Anfrage mit.
Eine einzelne Ursache für die Umweltkatastrophe lasse sich nicht erkennen. Weiterhin würden hohe Salzfrachten und ein hoher Sauerstoffgehalt festgestellt.
Zuvor hatten bereits die polnischen Behörden gemeldet, dass Quecksilber nicht der Grund für das Fischsterben sei. Das Landeslabor untersuche nun weitere Wasserproben von verschiedenen Tagen und Messpunkten sowie Fische, so Arnold.
Experte Christian Wolter vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei hat eine eigene Theorie zum Massensterben. «Inzwischen besteht der Verdacht, dass es sich um ein natürliches Phänomen handelt», sagt Wolter zu t-online. Konkret gehe es um die Blüte einer toxischen Alge. Am Pegel Frankfurt/Oder habe es einen auffälligen Anstieg des Chlorophyll-a-Gehalts gegeben, als die Verunreinigungswelle gekommen ist. Mit dem Chlorophyll-a-Gehalt messe man die Algen im Wasser.
Was ausserdem auf giftige Algen hinweisen könnte: Eine Verfärbung des Wassers, von der Fischer berichtet hätten, sagt der Ökologe. Zudem sei am Pegel der Sauerstoffgehalt des Wassers angestiegen und zeige auch Tag-Nacht-Schwankungen, wie es beispielsweise bei der Fotosynthese von Algen passiere. Parallel dazu sei auch der pH-Wert angestiegen, was wiederum zur Schädigung der Fische führen könne, erklärt der Experte.
«Es gibt Algen, die Toxine produzieren und damit eine Giftwirkung haben», so Wolter. Normalerweise habe man dieses Problem in fliessenden Gewässern nicht. Stehendes Wasser und hohe Temperaturen begünstigten hingegen die Ausbreitung der Algenblüte.
Dort, wo das Fischsterben zuerst beobachtet wurde, gebe es eine sogenannte Stauhaltung, sagt der Experte. «Es kann sein, dass sich dort Algenblüten entwickelt haben und keine chemische Substanz die Ursache für das Massensterben ist.» Von der Stauhaltung aus sei eine Welle die Oder heruntergespült worden, die sich am Pegel Eisenhüttenstadt ablesen liess. Die Oder sei demnach um 30 bis 35 Zentimeter gestiegen.
Dazu Fisch-Ökologe Christian Wolters:
Fotosynthese finde nur tagsüber statt, aber wenn es so viele Algen sind, die viel Sauerstoff produzieren, müssten sie auch nachts atmen. «Da habe ich geringere Werte erwartet», sagt der Experte. Nun gehe es darum, Biomassen der Algen aus Oder-Proben und auch die Algenart zu bestimmen.
Bestätigt ist der Verdacht der toxischen Algen nicht. Die Untersuchungen dauern an – und gestalten sich auch nach einer Woche noch schwierig. Da es beim Fischsterben in der Oder keinen Anfangsverdacht auf bestimmte chemische Stoffe gegeben habe, müsse man mit unspezifischen Verfahren die Wasserproben untersuchen, erklärt der Experte. «Das ist ein sehr aufwändiger Prozess.»
«Es wäre einfach, wenn eine hochtoxische Substanz die Ursache wäre», sagt Wolter. Die könne man messen und direkt nachweisen. Wenn es jedoch auf einen organischen Schadstoff zurückzuführen sei, kämen Hunderttausende von Verbindungen infrage, die je nach Kombination anders wirken könnten. «Das sind alles Stoffe, die in sehr geringen Konzentrationen vorliegen und dann wirksam werden können», sagt der Experte. «Das ist etwas, wofür man unheimlich lange braucht.»
Aber wie gehen die Analysen überhaupt vonstatten?
Wolter erklärt, dass Wasser, Fische und Sedimente, also Gestein und Boden, untersucht würden, um zu sehen, ob eine Substanz aus einem Sediment komme oder ob ein Gift im Sediment abgelagert werde.
Der Experte weist auf ein weiteres Problem hin: Wenn die Ursache eine kurzfristig wirkende Substanz war, werde man in den Fischkadavern nicht fündig. «Dann ist in den Proben der toten Fische nichts festzustellen», sagt Wolters. Bei vielen Schadstoffen komme es vor, dass die Fische ersticken, weil sich die Kiemen verschleimen. Das sei ein sehr universelles Sterbebild, das nicht auf eine bestimmte Substanz zurückzuführen sei.
Aufgrund dieser Umstände, betont Wolter, sei den Forschenden kein Vorwurf zu machen. Was aber definitiv fehlgeschlagen sei, sei die Kommunikation. «Für genau einen solchen Fall sind bei der Internationalen Kommission zum Schutz der Oder (IKSO) Meldeketten hinterlegt, die Fragen stellen wie: Wo tritt etwas auf und was macht man dagegen?», so der Fisch-Ökologe. «Das hat offensichtlich gar nicht funktioniert.» Wenn es wirklich ein Phänomen sei, dass den Ursprung in der Stauhaltung habe, hätte die Bekämpfung vielleicht schon viel früher stattfinden können. «Wenn man das nicht kommuniziert, ist auf einmal der gesamte Fluss betroffen.»
Was die Suche nach der Wahrheit zudem erschwert, ist der Umstand, dass die Oder ein grenzüberschreitender Fluss ist: Der Wahrheitssuche hinderlich scheinen von Anfang an Kommunikationsprobleme mit der polnischen Seite gewesen zu sein.
Nicht nur liegt der Auslöser für das Fischsterben höchstwahrscheinlich in Polen. Besonders die Absprachen mit verantwortlichen Stellen stromabwärts stellten die Deutschen wohl vor grössere Rätsel als eigentlich nötig. Denn Regierungsangaben aus Warschau zufolge hätten polnische Behörden schon Ende Juli Hinweise darauf gehabt, dass tote Fische in Massen in der Oder treiben.
Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (SPD) zufolge wurden die deutschen Stellen nicht umfangreich oder teilweise gar nicht über die akute Situation aufgeklärt. Er beklagte, die Kommunikation sei bloss «kleckerweise» dahergekommen. Darüber sei er persönlich verärgert.
In den Bundesländern, die an die Oder grenzen, wächst deshalb die Wut. Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Till Backhus (SPD) sagte dem «Deutschlandfunk», er sei «stocksauer». Die Entdeckung der verendeten Tiere sei viel zu spät an die Verantwortlichen stromabwärts gemeldet worden.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sprach im ARD-«Morgenmagazin» von einem möglichen «Vertrauensverlust», sollten die polnischen Behörden nicht alles an die Aufklärung des Desasters setzen. Als Umweltschützerin liessen sie der tonnenweise Anblick toter Fische nicht kalt: «Das packt einen an, wenn man diese Bilder sieht.»
Am Sonntagabend trafen sich Lemke und ihre polnische Amtskollegin Anna Moskwa, um die Suche nach Ursachen auf höchster Ebene anzugehen. Man habe eine Taskforce gegründet, bestehend aus deutschen wie polnischen Fachleuten. Bei der Krisenreaktion solle von nun an ein «permanenter Informationsaustausch» stattfinden.
Das Brandenburger Umweltministerium konstatiert zum Zustand des Flusses unterdessen: «Die Oder ist nun ein schwer geschädigtes Ökosystem.» Doch wie geht es mit diesem weiter? Ist zu befürchten, dass sich das Fischsterben gar auf die Ostsee ausweitet?
In Mecklenburg-Vorpommern sind die zuständigen Behörden in Alarmbereitschaft. Im Fokus steht dabei vor allem das Stettiner Haff, ein inneres Küstengewässer, in das die Oder mündet und das mit der Ostsee verbunden ist. Derzeit würden Proben entnommen, sagte Umweltminister Backhaus. Indes wurden im Stettiner Haff auch Ölsperren eingerichtet, um eine grössere Ausbreitung von möglichen Fischkadavern zu verhindern.
Die Anwohnerinnen und Anwohner an den Ausläufern des Stettiner Haffs sind zur Vorsicht aufgerufen. Das Schweriner Gesundheitsministerium rät für mehrere Badestellen vom Schwimmen ab. Der Landkreis sowie das Landesumweltministerium hatten schon zuvor empfohlen, auf Angeln und Fischen oder die Entnahme von Wasser zu verzichten.
Derweil fand man in Polen inzwischen auch tote Fische im kleinen Fluss Ner, der südlich von Lódź entspringt und in die Warthe mündet. Er hat keine Verbindung zur Oder. Auch südlich der Hafenstadt Stettin sind mittlerweile nach Angaben polnischer Behörden in Kanälen, die mit der Oder verbunden sind, tote Fische gefunden worden.
Dies bedeute, dass sich die verseuchten Wassermassen auf Stettin zubewegten, sagte der Chef der Gebietsadministration für die Woiwodschaft Westpommern, Zbigniew Bogucki. Die Stadt liegt nördlich vom Stettiner Haff, das zu zwei Dritteln Deutschlands Nachbarland gehört.
«Was immer es ist, es ist offensichtlich noch nicht so weit verdünnt, dass es wirkungslos geworden ist», sagt Experte Wolter. Die weitere Verbreitung in der Ostsee sei kaum abzuschätzen, besonders wenn wirklich eine Alge verantwortlich sein sollte. «Wenn die Alge eine süsswasserorientierte Art ist, könnte sie in der Ostsee sterben», so der Fisch-Ökologe. «Wenn es aber eine salzwassertolerante Art ist, dann könnte die Wirkung in der Ostsee sogar verstärkt werden», warnt er. Dabei handle es sich jedoch um reine Spekulation.
Immens wichtig ist Wolter zufolge die Reinigung der Oder. «Die Fischkadaver sollten so schnell wie möglich entsorgt werden.» Es handle sich um organisches Material, das im Wasser verfaule und dadurch Unmengen Sauerstoff ziehe. Bei hohen Temperaturen gehe das sehr schnell. Das habe weitreichende Konsequenzen für das Gewässer und andere Lebewesen.
Der Experte warnt: «Es gibt ein erhebliches Entsorgungsproblem. Man weiss nicht, wohin mit den toten Fischen.» Derzeit werden die Kadaver in Containern abtransportiert und verbrannt. «Ich wundere mich, dass man die Fische nicht einfach in eine Biogasanlage geben kann», sagt der Ökologe.
(dsc/t-online)
Auch in der Schweiz wäre das Potenzial gross. Alles wird mit viel Energie verbrannt oder einfach nur kompostiert, ohne das entstehende Gas zu nutzen.
Bin gespannt, was bei den Analysen in der Oder raus kommt. Das Fischsterben im Blausee wurde ja auch noch nicht aufgeklärt. Und auch bei uns haben Behörden, SBB und die Entsorgungsfirma versucht, Untersuchungen zu verhindern und zu vertuschen.