Das Erdbeben vom Dienstag an der Westküste Albaniens hat mindestens 49 Tote und 650 Verletzte gefordert. Das Beben trifft das Drei-Millionen-Land – eines der ärmsten Europas – hart, genau dort, wo man bisher die höchsten Tourismuseinnahmen generierte: an der Westküste rund um die Hafenstadt Durrës, wo viele Hotels sind.
Doch Albanien wird sich vom Erdbeben schon bald erholen, wird sich trotz Tragik und der Schäden nicht unterkriegen lassen. Einerseits, weil Albaner stolze Menschen sind und 30 Jahre nach der Befreiung von der sozialistischen Diktatur Enver Hoxhas endgültig aus der Armut raus wollen. Vor allem aber auch, weil der touristische Aufschwung in vollem Gange ist und als wichtigster, wachsender Wirtschaftszweig enormes Potenzial birgt. Das haben internationale Tourismusakteure und Investoren längst erkannt. Viele Projekte sind bereits in der Pipeline. Daran wird das Erdbeben vom Dienstag nichts ändern.
Albanien gilt noch immer als «unentdeckte Perle» am Mittelmeer: lange, unberührte Küstenstreifen, kristalline Strände, wilde Bergtäler. «Winnetou»-Land. Mit grünblauen Seen, Fjorden, Canyons, Wasserfällen. Und historischen Kleinstädten. Aber das sehr gute Preis-Leistungs-Verhältnis, kurze Flugzeiten und die bekannte albanische Gastfreundschaft machen das Land zu einem immer attraktiveren Reiseziel: Während 2010 gerade mal zwei Millionen Touristen nach Albanien reisten, waren es 2016 bereits 4,1 Millionen. Zwei Jahre später schon sechs Millionen, pro Jahr also eine Steigerung um eine Million Besucher. Der Beschäftigungsgrad im Tourismus stieg in dieser Zeit um 41 Prozent. 2020, hofft die Regierung, wird die Marke von 10 Millionen Touristen erstmals geknackt.
Einer, der das Potenzial erkannt hat, ist der albanisch-stämmige Schweizer Saimir Shala. 2017 gründete der Wirtschaftsinformatiker das Unternehmen albanienreisen.ch. Vorher arbeitete der 28- Jährige als IT-Projektleiter bei Sulzer. Seit drei Jahren organisiert er Wanderreisen in Albanien. Zusammen mit Lebenspartnerin Aylin Bakir, einer Juristin aus dem Berner Seeland.
Shala, bereits in der Schweiz ein Wanderfreak, war seit 2014 in den Bergen Albaniens unterwegs, wanderte tagelang. Wollte, dass auch Schweizer diese Welt entdecken. «Wir sagten uns, dass die albanischen Alpen, die bezaubernden, wilden Bergtäler etwas Besonderes für Schweizer sind», sagt Shala. Der Erfolg gibt ihm recht: Dieses Jahr führte er mit seiner Freundin über 250 Kunden durch Albanien. Zum Erdbeben sagt er: «Das ist zwar hart und tragisch. Aber es wird den wachsenden Tourismus in Albanien nicht bremsen.»
Die albanische Regierung hat grosse Ambitionen: «Invest in Albania» heisst ein entsprechendes Strategiepapier, das der «Schweiz am Wochenende» vorliegt: Wer in Albanien investiert, ein 4- oder 5-Sterne-Hotel baut, bezahlt die ersten zehn Jahre keine Gewinnsteuer. Keine Bau- und Infrastruktursteuer. Solche Hotelbesitzer bezahlen anstatt der gewohnten 20 Prozent Mehrwertsteuer noch gerade mal sechs Prozent.
Eigens dafür hat die Regierung das Land strategisch unterdessen in Tourismuszonen eingeteilt: das urbane Tirana/Durrës, den Süden («albanische Toskana»), das «ionische Albanien» bei Dhermi/Saranda. Und in die nördliche Zone – mit der Stadt Shkodra (Seen und Kultur) und den albanischen Alpen, für das Wandern und das Trekking. Doch Albanien setzt nicht primär auf Massentourismus. «Wir wollen nicht Massentourismus, sondern qualitativ guten Tourismus. Hochwertige Hotels, tolle Guest Houses und Resorts mit entsprechender Infrastruktur», sagt Blendi Klosi, Minister für Tourismus und Umwelt an einem verregneten Nachmittag in Tirana in seinem grossen, mit moderner Kunst versehenem Büro, unweit des Skanderberg-Platzes. «Wir werden unsere Küsten, unsere Natur nicht verbauen, auch da haben wir klare Strategien.»
15 High-End Projekte und zehn Jachthäfen sind bereits in der Pipeline. Sie entstehen in Zusammenarbeit mit internationalen Investoren. Mangels eigenem Geld in der Staatskasse sollen bekannte Hotelketten und Investorengruppen aus den USA, Asien und Europa den Staat wirtschaftlich flott machen. «Dank ihnen wird unsere Jugend in Tourismus und Hotellerie aus- und weitergebildet», sagt Klosi und betont, dass fast 60 Prozent der Bevölkerung unter 35-jährig sei.
Klosi und die Regierung setzen aber auch auf Agritourismus, auf ein Programm mit dem Namen «100 Villages»: Verteilt über ganz Albanien sollen in diesen Dörfern «gepflegte Guest Houses» entstehen. Und auch hier: Wer in abgelegenen Orten investiert, wird vom Staat belohnt. Mit 5 Prozent Einkommensteuer sowie tiefer Mehrwertsteuer von 6 Prozent.
Nun will die Regierung die Infrastruktur bereitstellen, Strassen verbessern, eine Autobahn Richtung Süden bauen und dort auch einen weiteren internationalen Flughafen errichten. Auch dafür werden ausländische Investoren gesucht. Bereits hat bekanntlich eine italienische Firma die albanische Abfallentsorgung übernommen. Und Saudis finanzierten und betreiben das Parkhaus unter dem riesigen Skanderbergplatz in der Hauptstadt Tirana. Droht der Ausverkauf des Landes? «Nein», sagt Umweltminister Klosi, «zum letzten Geheimnis Europas tragen wir Sorge.»
Auch Schweizer Unternehmen wollen am touristischen Aufschwung Albaniens teilhaben: 2019 ist die Ferienairline Edelweiss eingestiegen. Sie fliegt jeweils von April bis Oktober zweimal wöchentlich Tirana an. Die Zahlen entsprachen den Erwartungen.
Hotelplan ist schon länger aufgesprungen und glaubt nicht, dass die Nachfrage für Albanien aufgrund des Erdbebens abnehmen wird. Man erweitert sogar das Angebot: Während Hotelplan in Tirana, Durrës und Saranda dieses Jahr 18 Hotels im Angebot hatte, so Mediensprecherin Bianca Gähweiler, werden es im Sommer 2020 bereits 50 Hotels sein.