Es ist immer dasselbe Ritual: Einmal im Monat packen die 751 EU-Parlamentarier ihre Unterlagen in eine grüne Hartplastikbox und stellen sie vor die Türe ihrer Brüsseler Büros. Ein Angestellter des Parlaments kommt dann vorbei, nimmt die Kiste an sich und verlädt sie in einen von acht Lastwagen. Fünf Stunden später wird die Box wieder ausgeladen und erneut vor den Büros der Abgeordneten deponiert. Dazwischen liegen 440 Kilometer Autobahn und zwei Ländergrenzen. Willkommen in Strassburg, an der Plenarsession des EU-Parlaments.
Was für den aussenstehenden Betrachter absurd wirkt und es in den Augen vieler Beteiligter auch ist, gehört seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil europäischer Demokratie. Das EU-Parlament hat zwei Sitze, einen in Brüssel und einen in Strassburg. Jeweils für vier Tage im Monat zieht ein Pulk von rund 4500 Personen, bestehend aus EU-Abgeordneten, Parlamentsangestellten und Medienleuten von der belgischen Hauptstadt ins Elsass. Nicht nur Euroskeptiker sehen in diesem «Wanderzirkus» einen Beweis, wie unsinnig bürokratisch und ineffizient die Europäische Union doch sein kann.
Und die nackten Zahlen geben ihnen recht: Tausende Tonnen CO2 werden durch die Pendlerei produziert, mindestens 51 Millionen Euro kostet der Zweitsitz pro Jahr. Dabei bleibt das imposante Gebäude aus Stahl und Glas, garniert mit dem markanten Turm, an 317 Tagen mehrheitlich ungenutzt. Vom Konsum von Hahnenwasser wird abgeraten, weil die Leitungen die meiste Zeit stillstehen und sich Legionellen angesammelt haben könnten.
Logisch ist die Abschaffung des Zweitsitzes ein wiederkehrendes Thema. In einer Befragung haben sich vor ein paar Jahren rund zwei Drittel der Abgeordneten dafür ausgesprochen. Und erst in der vergangenen Woche versprach Manfred Weber, der christdemokratische Kandidat für das Amt an der EU-Spitze, er werde über Strassburg abstimmen lassen, falls er Kommissionspräsident werden sollte.
Nichtsdestotrotz sind sämtliche Versuche am vehementen Widerstand Frankreichs gescheitert. Ist auch verständlich: Für die Strassburger Wirtschaft sind die Plenarsessionen wertvolle Umsatztreiber. Die Hotels können ihre Zimmer für das Doppelte vermieten, die Restaurants und Bars sind pumpenvoll. Aber auch historische Gründe werden ins Feld geführt: Strassburg als Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung, der eigentlichen «Raison d’Être» des europäischen Friedensprojekts. «Geschichte hat ihren Preis», hat Kommissions-Chef Jean-Claude Juncker, ein überzeugter Verteidiger Strassburgs, zum Thema mal gesagt.
Tatsächlich kann man auf einer TGV-Fahrt Brüssel–Strassburg leicht auf tiefschürfende Gedanken kommen. Wenn man mit 300 Stundenkilometern über die Felder der Champagne fliegt, dem weiten Terrain, wie gemacht für Panzerschlachten, vorbei an der Stadt Verdun und ihren Soldatenfriedhöfen, hinein ins Elsass, über Jahrhunderte hinweg der Schauplatz nationalistischen Ringens. Dann macht es sofort Sinn, dass die Gründerväter der EU in weiser Geste die EU-Institutionen entlang der ehemaligen Frontlinien zwischen Belgien, Luxemburg und Frankreich gerecht verteilt haben.
Allerdings ist das nur die eine, romantisierte Hälfte der Wahrheit. Es spielten auch profanere und pragmatische Überlegungen eine Rolle, weshalb die Institutionen dort sind, wo sie sind. Als 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) als Vorgängerorganisation der heutigen EU beschlossen wurde, stritten die sechs Gründerstaaten Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Italien und die Bundesrepublik Deutschland heftig darüber, wo die Gemeinschafts-Organe angesiedelt werden sollten. Die Gespräche standen in der Nacht auf den 25. Juni 1952 kurz vor dem Scheitern, als Luxemburg vorschlug, die «Hohe Behörde» (Vorgängerin der EU-Kommission) wenigstens provisorisch im Grossherzogtum zu platzieren. Dies, damit die EGKS endlich ihre Arbeit aufnehmen konnte.
Einen genügend grossen Plenarsaal für die «Gemeinsame Versammlung» (heute EU-Parlament) gab es in der Umgebung aber nicht, weshalb man kurzerhand auf die Räumlichkeiten des 1949 gegründeten Europarats in Strassburg auswich. Obwohl es in der Folge immer wieder zu Diskussionen kam (als alternativer Standort war zum Beispiel Saarbrücken im Gespräch) verfestigte sich diese Übergangslösung – ganz nach europäischer Art – immer mehr. Definitive Klarheit brachte der Kompromiss von Edinburgh (1992) und der Vertrag von Amsterdam (1997).
Die Abschaffung des Strassburg-Sitzes könnte wirtschaftlich und funktional Vorteile bringen und die Debatte brandet kontinuierlich wieder auf. Trotzdem wird sich so schnell nichts bewegen. Einer Änderung der Verträge steht stets das Veto aus Paris entgegen. Und auch Luxemburg wehrt sich entschieden, weil es selbst um seine EU-Einrichtungen fürchtet.
Dass gerade aus Deutschland die Kritik immer wieder am lautesten daherkommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ein Drittel der Angestellten der Bundesregierung arbeitet auch heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, noch in Bonn, der 540 Kilometer entfernten Alt-Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.