Die Demonstration vom 11. Februar auf dem Pariser Platz der Republik richtete sich eigentlich gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron. Mindestens drei Plakate verfolgten aber ein anderes Anliegen: «EU und USA, hört auf, den Krieg in der Ukraine zu finanzieren», war auf einem zu lesen, hochgehalten von einem Mann mit Bart und Mütze.
Seltsam: Am 5. März beteiligte sich der gleiche junge Mann am Pariser Platz Saint-Pierre an einer anderen Operation, die nun im Gegenteil die Position Kiews einzunehmen schien. «Erdoğan, das Erdbeben ist der Preis für den Empfang russischer Touristen», höhnte ein Spruchband, das sich als ukrainisch ausgab. Dazu machte der Mann den Hitlergruss, wie später auf sozialen Medien wie Tiktok oder VKontakte – dem russischen Facebook – zu sehen war. Die verquere Botschaft lautete: Die Nazi-Ukrainer freuen sich über das mörderische Erdbeben in der Türkei, weil ihr Präsident im Krieg Russland nahesteht.
All das: purer Fake. Kreiert, inszeniert und manipuliert von Handlangern des russischen Geheimdienstes. Ihre Absicht war es offensichtlich, die Ukraine anzuschwärzen, aber auch, die westliche Front gegen das Putin-Regime zu spalten und konkret die Aufnahme Schwedens in die NATO zu hintertreiben.
Dies belegen Dokumente des russischen Geheimdienstes, die das Rechercheteam «Dossier Center» des Oppositionellen Michail Chodorkowskij am Montag europäischen Medien zugespielt hat. Die Pariser Zeitung Le Monde bildete ein übersetztes Papier des russischen Geheimdienstes ab, der sich darin zum Ziel setzte, «die undankbare und provokante Reaktion der Ukraine auf die Tragödie in der Türkei (Erdbeben) aufzuzeigen». Generell suchen die Russen die «destruktive Nazi-Natur proukrainischer Aktivisten hervorzuheben». Die Spannungen zwischen der Türkei und Schweden sollen auf diese Weise verschärft werden, damit Ankara an seinem Veto gegen die NATO-Aufnahme Stockholms festhält.
Diese skrupellose Desinformation, die laut dem russischen Präsidenten Wladimir Putin der «hybriden Kriegführung» seines Landes gegen den Westen dient, wird nicht zum ersten Mal entlarvt. In Entwicklungs- und Schwellenländern tritt sie oft noch unverhohlener in Erscheinung. Die nun von Chodorkowskij enthüllten Machenschaften führen vor Augen, wie zielgerichtet die russischen Meinungsmanipulatoren vorgehen. Die nur Minuten dauernde Lügenoperation mit dem Hitlergruss erreichte laut Le Monde 100'000 User.
Das französische Blatt schränkt zwar ein, dass die Aktion in der anvisierten türkischen Diaspora in Frankreich nur 82 Kommentare ausgelöst habe, und darunter seien wohl auch russische «Bots» (künstliche Computerprogramme). Informatiker geben allerdings zu bedenken, dass sich diese Internetlinks beliebig vervielfachen liessen, um einen Masseneffekt auszulösen. Inszenierungen wie diejenige in Paris - andere gab es laut «Dossier Center» in Madrid, Brüssel und Den Haag - seien zudem sehr billig zu produzieren.
Die beiden Operationen in Paris wurden gemäss Le Monde von einem Algerier namens Aymen H. aufgezogen. Er studiere seit 2019 in Petersburg und suche über Internet Mitwirkende, denen er ein Honorar von 100 Euro verspreche – ob sie nun gegen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine anzutreten hatten oder deren Standpunkte vorzugaukeln hatten.