Bei dem Kollaps der Morandi-Brücke in Genua im August 2018 verloren 43 Menschen ihr Leben. Über 500 mussten ihr Zuhause verlassen. Nach dem verheerenden Einsturz begann die Diskussion um die Schuldfrage. Wie konnte es so weit kommen?
Im Verlauf der Untersuchungen wandten sich die italienischen Behörden auch an einen Schweizer Sachverständigen. Bernhard Elsener ist ETH-Professor und Korrosionsexperte. Er wurde gebeten, Trägerteile der Brücke zu untersuchen, die bei dem Einsturz in die Tiefe fielen.
Herr Elsener, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie vom Einsturz der Morandi-Brücke erfahren haben?
Natürlich. Ich war an der ETH und mein Sohn hat mich angerufen. Der Einsturz war ein hochdramatischer Moment. In lebhafter Erinnerung geblieben ist mir aber etwas anderes.
An was erinnern Sie sich besonders?
In einem Dok-Film, der auf RSI gezeigt wurde, sah ich, wie es in den ersten Tagen nach dem Einsturz ausgehen hat und unter welchen Umständen und mit welchen bescheidenen Geräten Polizei und Feuerwehr die Toten bergen mussten. Das war prekär. Als ich als Experte zwei Wochen nach dem Einsturz vor Ort war, war vieles bereits beseitigt. Nur noch die grössten und schwersten Betonbrocken lagen noch da.
Über acht Monate lang haben Sie darauf den Einsturz der Morandi-Brücke untersucht. Jetzt schmeissen Sie hin. Warum?
Die zeitliche Belastung wurde zu gross. Ich unterrichte Mitte Februar bis Ende Juni in Sardinien als Professor für Materialwissenschaften. Jede zweite Woche bin ich also in Sardinien. Den Rest des Monats habe ich in Genua verbracht. Das war zu viel für mich und meine Familie. Als ich die Belastung auch körperlich gespürt habe, habe ich mich dafür entschieden, meinen Rücktritt einzureichen.
War es wirklich nur die zeitliche Belastung? In einem Interview mit RTS erklärten Sie, dass etwas mit den Trägern der Brücke nicht stimmte. Darauf wurden Sie harsch von den Anwälten und der italienischen Staatsanwältin kritisiert.
Meine Aussage war eine Tatsache, die schon bekannt war. Ich wurde kritisiert, weil ich in meiner Rolle als Experte darüber gesprochen habe. Der zunehmende Druck war aber auch sonst spürbar.
Können Sie dies genauer beschreiben?
Am Anfang der Untersuchung war die Atmosphäre kollegial und offen. Das hat sich zunehmend verschlechtert. Zusätzlich kam die riesige Arbeitslast dazu.
Wie wurde Ihre Arbeit dadurch beeinflusst?
Entscheidungen und Vorgehensweisen von uns Experten wurden zunehmend hinterfragt und kritisiert. Das artete in ein stetiges Rechtfertigen aus und der ganze Prozess verzögerte sich enorm.
Können die Experten in Zukunft überhaupt noch unabhängig arbeiten?
Da habe ich keinerlei Zweifel. Beide sind absolut integre Personen und müssen sich keine Sporen mehr abverdienen. Ich bin mir sicher, dass sie bei Beeinflussungsversuchen entsprechend protestieren und handeln werden.
Gegenüber dem Blick sagten Sie, die Anfrage sei eine grosse Ehre und Anerkennung für Ihr berufliches Schaffen. Haben Sie das Engagement als Experte unterschätzt?
Absolut. Als ich und meine zwei italienischen Kollegen im September 2018 bei der Untersuchungsrichterin vorsprachen, haben wir damit gerechnet, dass uns Berge von Akten übergeben werden. Doch das war nicht der Fall. Es gab keine Unterlagen. Wir mussten vor Ort die Brückenteile untersuchen. Alles musste zuerst organisiert werden. Das war ein enormer zeitlicher und organisatorischer Aufwand.
Wann hätte das Gutachten ursprünglich stehen sollen?
Am Anfang hiess es Weihnachten 2018. Doch dieser Termin wurde relativ schnell nach hinten verschoben. Irgendwann hiess es dann Februar 2019. Und im Februar dann, es werde Juni…
Was war das Problem?
Man hat die Komplexität des Verfahrens unterschätzt. Das Spezielle war zudem, dass wir Experten stets mit den Konsulenten aller beteiligten Parteien zusammen Treffen abgehalten haben. Da waren jeweils vierzig Leute an einer Besprechung anwesend. Das hat die Untersuchung zusätzlich erschwert und verkompliziert.
Haben auch Ihre Kollegen die zeitliche Belastung und den Druck gespürt?
Der Druck war enorm. Wegen der vielen Opfern und des riesigen medialen Echos will man seine Arbeit natürlich möglichst gut machen. Ein zweiter Kollege hat mir gesagt, dass er ebenfalls auf die Bremse treten müsse, wenn es so weiter gehe. Er steht kurz vor dem Burnout.