Im September, nach der Ankündigung einer internationalen Koalition gegen die Gotteskrieger, herrschte unter Beobachtern und Analytikern kurz der Glaube, der Islamische Staat sei bald nur noch ein Eintrag in den Geschichtsbüchern. Kurzzeitig wurde sogar die Al-Kaida-nahe Terrororganisation Khorasan zur grösseren Gefahr hochstilisiert.
I'm old enough to remember September, when Khorasan was "an even bigger threat than ISIS." http://t.co/jYDXFxJCHM https://t.co/wAuQhofU5U
— Matt Apuzzo (@mattapuzzo) 23. Juli 2015
Neun Monate später ist die diese Zuversicht verflogen: Zwar fliegen die USA und ihre Verbündeten immer noch sporadisch Luftangriffe. Die Erfolgsmeldungen sind aber mehrheitlich nüchternen Fakten gewichen. Mittlerweile ist klar: Der IS ist gekommen, um zu bleiben. Ob sich durch den Eintritt der Türkei in den Krieg gegen den IS etwas ändert, ist fraglich.
Weiterhin werden Andersgläubige geköpft, Homosexuelle in den Tod gestossen und weltweit Anschläge im Namen des IS verübt. Darf man sich angesichts dieser Grausamkeiten überhaupt mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass hier ein Staat im Entstehen begriffen ist, der fortdauern wird?
Ja, man muss sogar, meinen amerikanische Wissenschafter wie der Harvard-Professor Stephen M. Walt. In einem Beitrag für Foreign Policy entwirft Walt ein Szenario, wonach der IS über kurz oder lang sogar Teil der internationalen Staatengemeinschaft sein könnte. Der Islamwissenschafter Wilfried Buchta ist von dieser provokanten These nicht überzeugt.
Was ist der IS? Eine Horde fanatischer Gotteskrieger? Eine marodierende Verbrecherbande? Oder ein ausgeklügelter Plan zur Ergreifung der Weltherrschaft?
Wilfried Buchta: Er ist sicherlich nicht einfach mehr eine Terrormiliz. Der IS hat seit seinem Aufkommen 2014 alle unsere Kategorien gesprengt. Das macht ihn auch so furchterregend: Wir wissen nicht einmal, wie wir dieses Phänomen benennen sollen.
Ist er – im Sommer 2015 – ein Staat, wie er sich selber auch propagiert?
Ja, und zwar schon seit einem Jahr. Er kontrolliert seine Grenzen, er zieht Steuern ein, er unterhält eine Armee und er besitzt mit der Scharia ein Justiz-System, wenn auch eines, das auf einer archaischen Form des Islams beruht. Ein funktionierender Staat oder zumindest eine Art Proto-Staat.
Stephen Walt wagt in der Zeitschrift Foreign Policy die Prognose, dass sich der IS auf lange Frist sogar zu einem – wenn auch isolierten – Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft entwickeln könnte.
Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Völkerrecht ruht auf drei Grundpfeilern: Dem Prinzip der Nationalstaaten, der Volkssouveränität und dem Prinzip der Nicht-Einmischung: Der IS aber pfeift auf all diese Dinge. Er gründet auf der Ideologie eines universalistischen Weltreichs.
Walt vergleicht die Entwicklung des IS mit derjenigen der Französischen Revolution oder der Sowjetunion in ihrer Gründungsphase. Eine revolutionäre, gewalttätige Bewegung, die zuerst geächtet wird, sich dann über die Zeit mässigt, und schliesslich – wenn auch widerwillig – akzeptiert wird: Der IS als Sowjetunion des 21. Jahrhunderts?
Auch das halte ich für eine verfehlte Überlegung. Wie gesagt, der IS hat ein einziges Ziel: Ein islamistisches Grossreich, ein Kalifat. Konzessionen macht er auf dem Weg zur Erreichung dieses Ziels keine. Für den IS heisst es: Entweder unterwerfen sich unsere Gegner, oder wir vernichten sie.
Aber im Verhältnis zur Türkei handelt der IS doch auch pragmatisch?
Das ist richtig. Momentan dient die Türkei dem IS als Rückzugsgebiet und als Pufferzone. Aber mittelfristig steht auch die Türkei auf dem Speiseplan des IS. Dass der IS punktuell pragmatisch vorgeht, ist nicht ausgeschlossen. Aber dass er permanent Frieden schliessen könnte mit der westlichen Welt: unvorstellbar.
Vor zwei Jahren konnte man sich einen Islamischen Staat nicht einmal ansatzweise vorstellen: Wie konnte der IS in so kurzer Zeit so mächtig werden?
Der IS ist der grosse Profiteur der Verwerfungen in der nahöstlichen Welt. Die Spannungen zwischen dem wahabitischen Islam in Saudi-Arabien und den schiitischen Ayatollahs in Iran, das Abgleiten des Iraks ins Chaos, der syrische Bürgerkrieg: Das alles spielte dem IS in die Hände.
Wie gross ist die Akzeptanz des IS innerhalb der sunnitischen Bevölkerung?
Der Grossteil der Sunniten lehnt den IS ab, das ist sicher. Aber: Für die Sunniten, die im Einflussbereich des IS leben, ist er das kleinere Übel. Die Alternative im Irak wäre eine von Schiiten dominierte Regierung und in Syrien das Regime des Diktators Assasd. Keine valablen Alternativen.
Das heisst, der IS ist – trotz Terror, trotz Schutzgeld, trotz Abschreckungen – das kleinere Übel?
Ja, sowohl in Syrien als auch im Irak wurden die Sunniten permanent benachteiligt: Im Irak wurden sie nach dem Einmarsch der Amerikaner marginalisiert – ein grosser Fehler, wie sich herausstellen sollte. Und in Syrien betrieb Assad ein Regime, dass zwar auf dem Ausgleich zwischen den Ethnien beruhte, die Sunniten aber systematisch benachteiligte.
Weshalb ist die ethnische Zugehörigkeit eigentlich derart entscheidend?
In erster Linie aus historischen Gründen, aber Sie müssen sich auch vorstellen: Im Irak, und mit Abstrichen auch in Syrien, gab es in den letzten Jahrzehnten einen enormen Brain-Drain. In London alleine leben mehr Ärzte als im gesamten Zweistromland. Zurück bleiben Menschen mit einem tiefen Bildungsgrad, Menschen, die es sich nicht leisten können, zu emigrieren. Das Zurück-Fallen in ethnische und tribale Verhaltensmuster ist da naheliegend.
Immerhin, die irakische Elite, die Regierungsmitglieder, stammen aus guten Verhältnissen, genossen mehrheitlich westliche Bildungsstandards.
Ja, aber das Gros der Bevölkerung nicht. Noch einmal: Seit 1980 sind über drei Millionen gebildete Menschen aus dem Irak ausgewandert. Das würde keine Gesellschaft unbeschadet überstehen. Die junge Bevölkerung, die heute den Irak grösstenteils ausmacht, kennt nichts anderes als den Krieg. Sie spricht die Sprache der Kalaschnikows.
Der Irak ist seit Saddam fragmentiert, Syrien seit dem Bürgerkrieg 2011 in Einzelteile zerfallen. Provokativ ausgedrückt: Bietet der IS, aufgrund seiner vergleichsweisen Stabilität vielleicht eine Chance?
Nein. Es stimmt zwar, dass der IS in dem von ihm beherrschten Gebieten für Stabilität sorgt. Schaut man aber genauer hin, so ist vieles blosse Fassade: Sein System gründet auf einer Räuberökonomie, er produziert nichts, er beutet nur aus. Die Steuern gleichen mehr einer Schutzgelderpressung.
Sie sagen, der IS ist der grosse Profiteur des Chaos auf der arabischen Halbinsel. Denkt man sich den IS weg, so bleibt wieder nur das Chaos. Welche Hoffnungen gibt es für die Region?
Es gibt kaum Hoffnung. Nennen Sie mich Dr. Doom, aber Syrien und der Irak sind dem Untergang geweiht. Dasselbe gilt vermutlich übrigens auch für Jordanien. Und auch Ägypten ist auf dem Weg ein Staat zu werden, der durch Islamistenterror und harten staatlichen Gegenterror dauerhaft in einer selbstzerstörerischen Gewaltspirale gefangen bleibt.
Wie meinen Sie das?
In diesen beiden Ländern – aber längst nicht nur da – brodelt es. Stellen Sie sich vor: In Ägypten sind zehntausende von relativ moderaten Muslimbrüdern eingekerkert. Kommen die einmal raus, so werden sie aber mit einer grossen Wahrscheinlichkeit radikalisiert werden. Im Sinai hat sich eine IS-nahe Gruppe festgesetzt: Brächten sie durch Terroranschläge den Suezkanal-Verkehr zum Erliegen oder töteten zahlreiche Touristen, so könnten sie die ägyptische Wirtschaft mit einem Schlag lahmlegen.
Kann der IS besiegt werden?
Kaum. Und sicherlich nicht, solange eine umfassende Strategie fehlt. Die Luftschläge gegen den IS etwa sind lächerlich. Das sind Nadelstiche. Selbst wenn einmal ein Führungsmitglied ausgeschaltet oder eine grössere Zahl Kämpfer eliminiert werden sollte: An Nachschub mangelt es dem IS nicht.
Das klingt nicht gerade hoffnungsvoll.
Nun, vielleicht gelingt es mittels einer sinnvollen Bündnisstrategie. Doch die fehlte. Die internen Interessendifferenzen der Hauptpartner, hier der von den USA geführte Westen, dort die Golfstaaten und die Türkei, sind nicht überbrückbar. Letztere wollen das mit Iran verbündete alawitische Assad-Regime in Syrien um jeden Preis vernichten, um es durch ein sunnitisches Regime gleich welcher Art zu ersetzen, auch durch ein salafistisches Regime, gleich ob dies weitere millionenfache Vertreibungen oder sogar Genozide an religiösen Minderheiten heraufbeschwören würde.
Welche Rolle spielt dabei die USA?
Auch wenn die USA das Assad-Regime ablehnen, sehen sie doch in ihm den letzten Stabilitätsanker in der Region und können die Pläne der Türkei und der Golfaraber nicht unterstützen. So war die Anti-IS-Koalition von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Insbesondere Saudi-Arabien leistet nur Lippenbekenntnisse.
Wie ist der erfolgreiche Abschluss der Atomverhandlungen mit dem Iran in diesem Zusammenhang einzuordnen?
Mit der Annäherung an den Iran ist ein grosser Schritt getan worden. Der Iran ist für den Westen zu einem unverzichtbaren Kooperationspartner in der Region geworden, will er weiteren Staatszerfall und Genozide verhindern. Die USA haben begriffen, dass sie allein Stabilität und Ordnung in der Region nicht mehr bewahren können und dass ihr bisher wichtigster Verbündeter in der Region, Saudi-Arabien, durch dessen Förderung von Salafisten mehr Schaden als Gutes anrichtet. Deshalb nähern sie sich dem Iran vorsichtig an, und gehen zu Saudi Arabien schrittweise auf Distanz. Heute können die USA das besser als zuvor, denn dank Fracking sind sie nicht mehr im gleichen Mass auf die saudischen Erdölvorräte angewiesen wie noch vor wenigen Jahren und wurden energiepolitisch autark.
Könnte eine Politik des Containment den IS in seine Schranken weisen?
Das ist nicht ausgeschlossen. Aber bedenken Sie, da ist viel im Entstehen begriffen, von dem wir uns noch keine Vorstellung machen.
Wie ist der aktuelle Zustand des IS?
Er erfreut sich grösster Lebenskraft. Keinesfalls ist er geschwächt, wie das mitunter in den Medien und in Regierungsverlautbarungen kolportiert wird.
Wie sieht der Nahe Osten in zehn Jahren aus?
Dazu kann ich ihnen keine Prognose liefern. Das wäre ein Blick in die Glaskugel. Nur soviel: Erfreuliche Aussichten sind es nicht. So gerne ich Ihnen ein rosiges Bild malen möchte, das würde kaum der Wirklichkeit entsprechen.