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Triumph und Tragödie Israels: Ein Land zwischen Bedrohung und Besatzung

Ein Land am Scheideweg: Anhängerin der Opposition an einer Kundgebung in Tel Aviv.Bild: JIM HOLLANDER/EPA/KEYSTONE

Triumph und Tragödie Israels: Ein Land zwischen Bedrohung und Besatzung

Israel ist der einzige westliche Staat, der ein anderes Volk besetzt hält. Und der einzige, der in seiner Existenz bedroht ist. Ein hervorragendes Buch schildert seine wechselvolle Geschichte.
17.03.2015, 08:4723.03.2015, 13:10
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Ein «normales» Land war Israel nie. Ein jüdischer Staat, basierend auf westlich-demokratischen Werten, errichtet in einem feindseligen arabisch-islamischen Umfeld. Kriege und Terror haben Israel geprägt, und das lange vor der Gründung 1948. Mit Folgen für die Psyche der Menschen: «So weit meine Erinnerung zurückreicht, habe ich Angst verspürt. Existenzielle Angst.» Mit diesen Worten beginnt das Buch «Mein gelobtes Land» des israelischen Publizisten Ari Shavit.

Das aber ist nur eine Seite der Medaille: «So weit meine Erinnerung zurückreicht, hat Israel fremde Territorien besetzt gehalten», schreibt Shavit weiter. Ein Zustand, der ihn moralisch erzürnte und zum Pazifisten werden liess. Bis er erkannte, dass zwischen Existenzangst und Empörung ein Zusammenhang besteht: «Israel ist der einzige westliche Staat, der ein anderes Volk besetzt hält. Israel ist aber auch der einzige westliche Staat, der in seiner Existenz bedroht ist.»

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Mit dieser Formulierung bringt Shavit «Triumph und Tragödie Israels» – so der Untertitel seines Buches – auf den Punkt. «Mein gelobtes Land» wurde 2013 veröffentlicht und ist nun pünktlich zur israelischen Parlamentswahl auf Deutsch erschienen. Endlich, denn man muss lange suchen, um ein besseres Buch über Israel zu finden. Es wurde sowohl hoch gelobt wie hart kritisiert, vorab von jenen, die den Nahost-Konflikt durch die schwarz-weisse Brille betrachten.

Den Konflikt richtig verstehen

Solche gibt es zur Genüge, auch in unseren Gefilden. Die einen zeigen mit dem Finger auf die «Besatzungsmacht» Israel, ignorieren aber die Bedrohung. Die anderen heben diesen Punkt hervor, verschliessen aber die Augen vor den Folgen der Besatzung. Für Ari Shavit sind beide Sichtweisen falsch: «Die Wahrheit ist, dass man, wenn man nicht beide Elemente in sein Weltbild aufnimmt, weder Israel noch den israelisch-palästinensischen Konflikt richtig verstehen kann.»

«Lydda ist unsere Blackbox. In ihr liegt das dunkle Geheimnis des Zionismus.»
Ari Shavit

Der 57-Jährige, der seit 1995 für die linksliberale Zeitung «Haaretz» tätig ist, schildert die Geschichte Israels aus subjektiver Sicht. Er beginnt mit der Reise seines britischen Urgrossvaters Herbert Bentwich nach Eretz Israel im Jahr 1897. Er soll im Hinblick auf den ersten Zionistenkongress in Basel im gleichen Jahr einen Bericht verfassen. Bentwich ist begeistert von den jüdischen Mustersiedlungen. Doch er will nicht zur Kenntnis nehmen, dass «ein anderes Volk jetzt das Land seiner Ahnen besiedelte». Man wird es später als Palästinenser bezeichnen.

Der Konflikt eskaliert

Diese Ignoranz ist eine Keimzelle des anhaltenden Konflikts. Eine weitere ist der Erfolg der Zionisten, die seit dem frühen 20. Jahrhundert nach Palästina eingewandert waren und die Kibbutz-Bewegung begründet hatten. Sie legten malariaverseuchte Sümpfe trocken und pflanzten (Jaffa-)Orangen an, die sie nach Europa exportierten. Dies erregte Hass und Neid unter den Arabern. Schon in den 1920er Jahren kam es zu ersten Übergriffen auf Juden, sie führten zum Arabischen Aufstand von 1936 bis 1939.

Das wohl wichtigste Kapitel in Shavits Buch schildert eine Episode aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1948, als Israel einen Tag nach der Gründung von seinen arabischen Nachbarn angegriffen wurde. Der Autor zertrümmert das Bild des heldenhaften Abwehrkampfes anhand der arabischen Stadt Lydda, dem heutigen Lod. Die strategisch wichtige Ortschaft im Herzen Israels unweit des internationalen Flughafens sollte nicht dem «Feind» überlassen werden. Auf Anweisung von Premierminister David Ben Gurion marschierte die Armee am 11. Juli 1948 in Lydda ein.

Araber auf der Flucht vor der israelischen Armee. Viele gingen nicht freiwillig, sie wurden vertrieben.
Araber auf der Flucht vor der israelischen Armee. Viele gingen nicht freiwillig, sie wurden vertrieben.Bild: AP

Mehr als 200 Zivilisten wurden getötet. Allein 70 starben, als ein Soldat eine Panzerabwehrrakete auf eine Moschee abfeuerte. Shavit spricht von einem Massaker: «Lydda ist unsere Blackbox. In ihr liegt das dunkle Geheimnis des Zionismus.» Tags darauf wurden die arabischen Bewohner «evakuiert» oder vielmehr vertrieben: «Wie die vorzeitlichen Juden gehen die Menschen von Lydda ins Exil.» Ari Shavit beklagt ihr Schicksal, er kritisiert die Soldaten, kann sie aber nicht verurteilen: «Ohne sie wäre der Staat Israel nicht entstanden. Ohne sie wäre ich nicht geboren worden.»

Siedlungen sind «Krebsgeschwür»

Diese «Schizophrenie» wurde prägend für die folgenden mehr als 60 Jahre. Den weiteren Verlauf der Geschichte schildert Shavit anhand von zahlreichen Interviews mit Persönlichkeiten aus allen Lagern. Er beschreibt den Aufbau des jungen Staates, der mit der Verdrängung der palästinensischen Katastrophe wie auch des jüdischen Holocaust einher ging. Unverblümt äussert er sich zum israelischen Atomprogramm, inklusive Atomwaffen, und zu den Siedlungen in den besetzen Gebieten, die er als «Krebsgeschwür» bezeichnet.

Ari Shavit spricht über sein Buch.video: YouTube/Charlie Rose

Immer wieder kommt Shavit auf die Palästinenser zu sprechen. Mit einem Vertriebenen von 1948 besucht er dessen alte Heimat und realisiert, wie sehr sich dieser danach zurücksehnt. Von einem befreundeten israelisch-palästinensischen Anwalt bekommt der Journalist harte Worte zu hören: «Die Zukunft gehört uns. Welche Tricks ihr auch immer versucht, ihr werdet nicht in der Lage sein, einen westlichen Staat jüdischen Charakters zu erhalten. Ihr werdet einzig einen Rollenwechsel herbeiführen: Wir werden die Herren sein und ihr die Diener.»

Ungewisse Zukunft

Die Schilderung der jüdischen Seite liefert ebenfalls wenig Anlass zu Optimismus. Immer grösseren Einfluss erlangen Gruppierungen, die nicht vom westlich-aufgeklärten Denken geprägt sind: Orientalische und ultraorthodoxe Juden sowie die rund eine Million Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Wirtschaftlich hat sich Israel vom einstigen Kibbutz-Sozialismus zu einer viel bewunderten Start-Up-Nation entwickelt, mit einer immer grösseren Ungleichheit als Kehrseite.

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Man liest das Buch mit Genuss, denn Ari Shavit ist ein glänzender Schreiber. Aber auch mit Beklemmung, denn Israels Zukunft scheint ungewiss. Bedroht von aussen – das iranische Atomprogramm schildert der Autor ähnlich alarmistisch wie Benjamin Netanjahu – und «dysfunktional» im Innern, stellt sich für Shavit eine entscheidende Frage: Hat Israels freiheitliche Gesellschaft genug Kraft, um den inneren und äusseren Bedrohungen zu widerstehen?

Eine klare Antwort kann Ari Shavit nicht geben. Er glaubt nicht, dass es in dieser Generation Frieden und Ruhe geben wird. Und doch gibt er die Hoffnung auf eine positive Zukunft nicht auf. Vielleicht beginnt sie mit der Parlamentswahl vom Dienstag. Ari Shavit hat seinen Wunsch nach einem Machtwechsel deutlich durchblicken lassen, unter anderem mit einem wohlwollenden Porträt von Oppositionsführer Isaac Herzog.

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