Perus Präsident Pedro Castillo hat hoch gepokert, aber sein Blatt überreizt: Mit der Auflösung des Kongresses wollte der linke Politiker einem Misstrauensvotum im Parlament zuvorkommen - doch letztlich hat er sich verkalkuliert. Sowohl sein eigenes Kabinett als auch die Opposition witterten einen Staatsstreich und liessen den früheren Dorfschullehrer auflaufen. Am Ende des Tages war die bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte neue Staatschefin, Castillo sollte die Nacht in Haft verbringen - Vorwurf: Rebellion. Die Justiz prüfte nach einer Anhörung am Donnerstag, ob er für zunächst sieben Tage in Untersuchungshaft kommt.
Der 53-jährige ehemalige Lehrer wurde 2021 mit einer knappen Mehrheit zum Präsidenten Perus gewählt. Bis im Juni 2022 war er Mitglied der marxistischen Partei «Freies Peru»; er trat jedoch aus, um einem bevorstehenden Parteiausschluss zuvorzukommen.
Der Linkspolitiker hatte bis zu seiner Wahl zum Präsidenten nie ein politisches Amt inne. Der Bauer, Lehrer und Gewerkschaftler vertrat vor allem das ländliche Peru. Nationale Bekanntheit erlangte er, als er 2017 den landesweiten Lehrerstreik anführte.
Politisch vertritt Castillo linkspopuläre, teils aber auch konservative Positionen. So möchte er die Verstaatlichung der nationalen Industrie vorantreiben und die staatlichen Investitionen in Bildung und Gesundheitswesen erhöhen. Gleichzeitig sprach er sich aber gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und für die Todesstrafe aus. Zudem schlug er die Bildung paramilitärischer Gruppen vor, damit die Jugendlichen Perus eine «revolutionäre Erfahrung» erleben. Er rief die Bevölkerung auf, sich zu bewaffnen, um durch eine «sozialistische Verwaltung» für Gerechtigkeit zu sorgen.
Mit grosser Mehrheit enthob der Kongress den 53-Jährigen am Mittwoch wegen «dauerhafter moralischer Ungeeignetheit» des Amtes. Gegen den Staatschef laufen eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren wegen Korruptions- und Plagiatsvorwürfen. 101 Parlamentarier stimmten schliesslich für die Amtsenthebung, 6 dagegen und 10 enthielten sich. Das eindeutige Votum hat sich Castillo mit seiner Machtprobe wohl selbst zuzuschreiben. Noch am Morgen war unklar gewesen, ob die 87 Stimmen für den Misstrauensantrag überhaupt zusammenkommen.
Dann kündigte Castillo die Auflösung des Kongresses an. Er wollte eine Notstandsregierung einsetzen und künftig per Dekret regieren. «Der Kongress hat den Rechtsstaat, die Demokratie und das Gleichgewicht zwischen den Staatsgewalten zerstört», sagte Castillo. «Wir rufen alle Institutionen der Zivilgesellschaft und alle sozialen Gruppen dazu auf, die Entscheidung zu unterstützen.» Politiker aus dem Regierungslager und der Opposition werteten dies als Staatsstreich.
Castillo hatte sich offenbar verspekuliert. Zwar ist der Kongress, der als durch und durch korrupt gilt, laut Umfragen noch deutlich unbeliebter als die Regierung. Doch mit seiner Kraftprobe ging der Staatschef wohl zu weit: Zahlreiche Kabinettsmitglieder gingen ihm von der Fahne, allen voran Vizepräsidentin Dina Boluarte. «Ich lehne die Entscheidung von Pedro Castillo ab, durch die Auflösung des Kongresses den Zusammenbruch der verfassungsmässigen Ordnung herbeizuführen. Das ist ein Staatsstreich, der die politische und institutionelle Krise verschärft, die die peruanische Gesellschaft unter strikter Einhaltung der Gesetze überwinden muss», schrieb sie auf Twitter.
Castillo wurde schliesslich im Zentrum der Hauptstadt Lima festgesetzt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm einen Angriff auf die verfassungsmässige Ordnung des Landes vor. Gegen ihn werde wegen Rebellion ermittelt, teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit.
Nach der Absetzung Castillos durch das Parlament wurde Boluarte als neue Präsidentin vereidigt. «Ich bin mir der enormen Verantwortung bewusst, die auf mich zukommt, und rufe zur Einheit aller Peruaner auf», sagte die 60-jährige Juristin in ihrer Antrittsrede im Kongress. «Ich rufe zu einem breit angelegten Dialog zwischen allen politischen Kräften auf.» Boluarte ist die erste Staatschefin in der Geschichte des südamerikanischen Landes.
Castillos Regierung stand seit dem Amtsantritt des ehemaligen Dorfschullehrers im Juli vergangenen Jahres unter Druck. Wegen verschiedener Vorwürfe und Meinungsverschiedenheiten räumten immer wieder wichtige Minister ihre Posten. Erst vor zwei Wochen ernannte Castillo eine neue Kabinettschefin – die fünfte in knapp eineinhalb Jahren. Seit seinem Amtsantritt hatte er bereits zwei Amtsenthebungsverfahren überstanden. Innerhalb der ersten 13 Monate seiner Regierungszeit wurden von ihm 67 Minister ernannt oder abberufen – im Schnitt ist das ein Regierungswechsel alle sechs Tage. Stabil geht anders.
Die Regierung des Linkspolitikers befand sich zudem in einem permanenten Machtkampf mit dem von konservativen Kräften dominierten Parlament. Zuletzt verweigerte der Kongress dem Staatschef die Erlaubnis, zum Gipfel der Pazifik-Allianz nach Mexiko zu reisen, und liess das Treffen damit platzen. Auch gegen zahlreiche Parlamentarier wird wegen verschiedener Vorwürfe ermittelt, unter anderem Korruption. Zwei von Castillos Vorgängern wurden in ähnlichen Verfahren ihres Amtes erhoben. Von den letzten zehn Präsidenten Perus wurden sechs ins Gefängnis gesteckt (mehrheitlich wegen Korruption), einer in einem Putsch des Kongresses abgesetzt, einer beging kurz vor seiner Festnahme Suizid (ihm wurde Korruption vorgeworfen) und einer trat nach sechs Tagen im Amt wegen landesweiter Proteste zurück.
Die USA verurteilten die Auflösung des Kongresses durch Castillo als Verfassungsbruch. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte jeglichen Versuch, die demokratische Ordnung zu untergraben. Mexikos Regierung hingegen zeigte sich aufgeschlossen, dem abgesetzten Präsidenten Asyl zu gewähren: «Wir verfolgen eine Politik, die dem Asyl positiv gegenübersteht. Ich glaube nicht, dass wir es ablehnen würden», sagte Aussenminister Marcelo Ebrard am Mittwoch (Ortszeit) im Radiosender Fórmula. «Wenn er darum bittet, werden wir es wohlwollend erwägen.»
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) stellte sich hinter die neue Präsidentin Boluarte. «Heute wurde in Peru in die verfassungsmässige Ordnung eingegriffen. Ich versichere Dina Boluarte unsere Unterstützung für die Demokratie, den Frieden und die Institutionen in Peru und die dringende Notwendigkeit, den demokratischen Weg in diesem Land wiederherzustellen», sagte OAS-Generalsekretär Luis Almagro. (cpf)
Mit Material der SDA ergänzt.