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So geht die israelische Armee bei ihrem Vormarsch im Gaza-Streifen vor

Ein israelischer Soldat lässt die Aufklärungsdrohne zur Beobachtung des Gaza-Streifens aufsteigen.
Ein israelischer Soldat lässt die Aufklärungsdrohne zur Beobachtung des Gaza-Streifens aufsteigen.bild: Atef Safadi/EPA

So geht die israelische Armee bei ihrem Vormarsch im südlichen Gaza-Streifen vor

Langsam, aber sicher dringt Israels Armee tiefer in den Gaza-Streifen ein. Dennoch bleibt das Schicksal der mehr als 130 dort festgehaltenen Geiseln ungewiss.
14.01.2024, 07:1114.01.2024, 07:28
Kurt Pelda, Sderot / ch media
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Der Soldat mit dem umgehängten Sturmgewehr hält eine Aufklärungsdrohne vom Typ Skylark in den Händen. Er hakt sie an einem langen, elastischen Seil ein, das er anschliessend spannt, indem er zwanzig Schritte rückwärts macht. Seine Kollegin, ebenfalls in olivgrüner Uniform, spricht unterdessen in ein Funkgerät.

Plötzlich beginnt der Elektromotor leise zu summen, und der Soldat wirft das etwas mehr als zwei Meter lange Flugzeug in die Höhe. Das gespannte Seil katapultiert die Drohne in die Luft. Danach wird sie vom Propeller in den Himmel gezogen. Wir sind rund elf Kilometer von Chan Yunis entfernt, einer Hamas-Hochburg im südlichen Gaza-Streifen.

Kanonendonner und Luftangriffe

Die Aktion wird von einer Soldatin mit langen blonden Haaren beobachtet. In israelischen Drohneneinheiten dienen auffällig viele Frauen. Häufig wird die «Himmelslerche» (Skylark auf Deutsch) verwendet, um Ziele für die Artillerie zu finden und deren Feuer zu korrigieren.

Tatsächlich hat sich ganz in der Nähe eine grössere Einheit mit M109-Panzerhaubitzen eingegraben. Wir nähern uns der Batterie durch einen lichten Wald auf einem Hügel, während ein Kampfhelikopter über uns Runden dreht. Die Panzerhaubitzen sind gut sichtbar, jede einzelne ist mit einem Erdwall geschützt.

Weil Chan Yunis in der Nähe liegt, sind die Rohre flach ausgerichtet. Sie ragen gerade über den Erdwall und feuern ihre Granaten über den Hügel, auf dem wir das Spektakel beobachten. Während die Kanonen donnern, bringt ein israelischer Bauer in aller Ruhe Setzlinge aus – mit einer Maschine auf einem Acker gleich neben der Artilleriestellung.

Eine eingegrabene israelische M109-Haubitze feuert auf Hamas-Ziele im Gaza-Streifen.
Eine eingegrabene israelische M109-Haubitze feuert auf Hamas-Ziele im Gaza-Streifen.Bild: Atef Safadi/EPA

Es ist offenbar das Vorbereitungsfeuer für einen grösseren Angriff. Die Israeli schiessen schätzungsweise 50 Granaten über die Grenze nach Gaza. Kurz nach dem Abschussknall ist jeweils ein dumpfer Einschlag zu hören. Bei Chan Yunis steigt Rauch auf und vernebelt die Sicht. Danach ertönt das Stakkato von Maschinenkanonen. Mehrere Jets und der einsame Kampfhelikopter greifen ebenfalls in die Kämpfe ein. Ein Black-Hawk-Helikopter nähert sich im Tiefflug, möglicherweise, um Verwundete zu evakuieren.

Unterschiedlicher Grad der Zerstörung

Drei Monate nach dem Hamas-Massaker hat Israels Armee die Präsenz im nördlichen Drittel des Gaza-Streifens reduziert. Das Gebiet gilt inzwischen als weitgehend «gesäubert», auch wenn einzelne palästinensische Gruppen für sich in Anspruch nehmen, dort immer noch Anschläge zu verüben. Nach Armeeangaben wurden bisher etwa 8000 Terroristen getötet, der Rest hat sich grösstenteils weiter nach Süden zurückgezogen.

Die Hamas behauptet, dass es inzwischen mehr als 23'000 zivile Todesopfer gebe, doch den Angaben einer Terrororganisation, die unter anderem Kinder entführt oder brutal ermordet, kann man nicht wirklich vertrauen.

Das Ausmass der Zerstörung, die die israelischen Angriffe verursacht haben, ist unterschiedlich. Von der Grenze aus lassen sich mit dem Fernglas völlig zerschossene Quartiere in Gaza ausmachen, doch dann gibt es auch Hochhäuser, die zumindest aus der Ferne noch halbwegs intakt aussehen.

Die Beobachtung, dass es entsetzliche Zerstörungen neben Vierteln gibt, in denen viele Häuser noch stehen, werden durch Videos aus dem Kriegsgebiet bestätigt. Als israelische Panzer und Infanterie das extravagante Ferienanwesen – mitsamt Schwimmbad – des Hamas-Kaders Marwan Issa stürmten, waren auf den Bildern kaum Spuren des Kriegs zu erkennen.

Das ändert aber nichts daran, dass Hunderttausende vertriebene Palästinenser im Süden des Gaza-Streifens in einer «humanitären Zone» elendig dahinvegetieren. Guckt man ganz im Süden, beim Grenzübergang Kerem Shalom, mit dem Fernglas Richtung Rafah, lassen sich weder Menschen noch zerstörte Gebäude erkennen.

Rafah an der ägyptischen Grenze befindet sich noch nicht im Fokus der israelischen Offensive. Schwenkt der Blick nach Ägypten, geraten die mit humanitärer Hilfe für die Notleidenden beladenen Sattelschlepper ins Bild, die direkt hinter dem Grenzzaun auf die Weiterfahrt nach Rafah warten.

Geflüchtete Palästinenser in provisorischen Unterkünften im südlichen Gaza-Streifen.
Geflüchtete Palästinenser in provisorischen Unterkünften im südlichen Gaza-Streifen.Bild: Mohammed Saber/EPA

Wo sind die Geiseln?

Vertriebene gibt es allerdings auch auf der israelischen Seite, selbst wenn diese keinen Hunger leiden müssen. Zu jenen, die ihr Heim verloren haben, gehört der Software-Entwickler Shmuel Moha. Er lebte vor dem Hamas-Massaker im Kibbuz Nirim, nur zwei Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt.

«Es waren drei Angriffswellen, die unserer Gemeinschaft den Garaus machten», erzählt er an seinem Arbeitsplatz in Sderot, einer knapp dreissig Kilometer entfernten Stadt. «Zuerst kamen Spezialeinheiten der Hamas, danach bewaffnete Zivilisten aus Gaza, die ebenfalls mordeten, und am Schluss Zivilisten, die plündern wollten.»

Shmuel hatte grosses Glück: Er versteckte sich mit seiner Frau und dem damals erst zwei Monate alten Sohn im Luftschutzbunker seines Hauses. Dieser liess sich aber nicht abschliessen. Der Dreissigjährige konnte deshalb nur den Türgriff nach oben drücken, als ein Terrorist versuchte, in den Bunker einzudringen. Mit einer App auf seinem Handy öffnete Shmuel die Fensterläden des Hauses, in der Hoffnung, die Terroristen zu erschrecken. Der Trick funktionierte, und die Mörder suchten sich andere Opfer.

In Kibbuzim wie Nirim leben Menschen, die eher links wählen. Viele von ihnen konnten sich vor dem 7. Oktober eine Zwei-Staaten-Lösung vorstellen.

Shmuel Moha (r.) und Yuval Raphael, beide Überlebende des Hamas-Massakers aus dem Kibbuzim Nirim, erinnern an das Schicksal des entführten Nadav Popplewell.
Shmuel Moha (r.) und Yuval Raphael, beide Überlebende des Hamas-Massakers aus dem Kibbuzim Nirim, erinnern an das Schicksal des entführten Nadav Popplewell.bild:Michael Buholzer/Keystone

«Doch das hat sich geändert», meint Shmuel, «wir haben kein Vertrauen mehr in Palästinenser. Es wird keine Gastarbeiter aus Gaza oder dem Westjordanland mehr bei uns geben. Manche von ihnen haben uns vor dem Massaker ausspioniert. Und wir dürfen die Geiseln nicht vergessen», fährt der Informatiker fort und zeigt auf einen dunklen Computerbildschirm in seinem Büro. «Das ist der Arbeitsplatz von Nadav Popplewell, einem meiner Freunde aus Nirim. Er ist 51 Jahre alt und hat Diabetes. Zusammen mit seiner Mama wurde er aus dem Kibbuz entführt und in einem Tunnel der Hamas festgehalten.»

Die 79-jährige Mutter hat die Terrororganisation inzwischen freigelassen, aber Nadav blieb mit mehr als 130 weiteren Leidensgenossen in Geiselhaft. «Bitte erinnere auch an sein Schicksal, wenn du deinen Artikel schreibst», meint Shmuel beim Abschied. (aargauerzeitung.ch)

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24 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Esther R.
14.01.2024 10:14registriert November 2018
Meine Gedanken sind auch bei Naama Levy. Sie ist eine 19 Jährige junge Dame.
Ein Videoclip von ihr ging viral, in dem zu sehen ist wie sie in Gaza, in blutigen Hosen und gefesselten Händen, an den Haaren unter Allah Jubelrufen aus einem Kofferraum eines Trucks gezogen wird. Es ist klar zu sehen, dass sie brutal vergewaltigt wurde.
Naama war Teil einer Friedensorganisation die Israelis und Palästinenser zusammenführt um gemeinsam eine bessere Zukunft aufzubauen. Sie wird seit 100 Tagen von Terroristen in Gaza gefangen gehalten. BRING HER HOME NOW!
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*klippklapp*
14.01.2024 16:20registriert Dezember 2017
"...doch den Angaben einer Terrororganisation, die unter anderem Kinder entführt oder brutal ermordet, kann man nicht wirklich vertrauen."

Ok, wenn das die Regeln sind, dann muss man diesen Abschnitt auch ändern:

Nach Armeeangaben wurden bisher etwa 8000 Terroristen getötet, der Rest hat sich grösstenteils weiter nach Süden zurückgezogen. Einer Armee, die Zivilisten ermorden, Kinder in der Nacht aus ihren Häusern entführen und ins Gefängnis stecken, sowie etliche male beim dreisten Lügen erwischt wurden, kann man nicht wirklich vertrauen.

Bitte, gern geschehen!
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