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Gaza: Überlebender berichtet, wie israelische Soldaten Sanitäter töteten

Gaza Roter Halbmond
Sanitäter des Roten Halbmonds umarmen ihre Kollegen, nachdem die Leichen am 30. März gefunden wurden. Bild: Ocha/Roter Halbmond

«Ich hörte ihren letzten Atemzug» – wie israelische Soldaten Sanitäter töteten

Munther Abed (27) ist Sanitäter beim Roten Halbmond im Gazastreifen. Er ist der einzige Überlebende eines israelischen Angriffs vom 23. März, bei welchem 15 palästinensische Sanitäter getötet wurden.
05.04.2025, 07:1905.04.2025, 13:28
Lena Schibli
Lena Schibli
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Was ist am 23. März passiert?

Ein Krankenwagen des Roten Halbmonds ist am 23. März unterwegs Richtung Rafah. Sie wollen Zivilisten abholen, die bei einem Luftangriff verletzt wurden. Doch dann gerät die Ambulanz in Hashashin, einem Stadtteil in Rafah, unter israelischen Beschuss. Aus einem Bericht der Vereinten Nationen geht hervor: Die israelische Armee hat im Süden des Gazastreifen 15 Mitarbeiter des Roten Halbmondes, der UN und des palästinensischen Zivilschutzes erschossen. Die Toten wurden danach von der Armee unter dem Einsatz von Bulldozern mitsamt ihrer Fahrzeuge in einem Massengrab vergraben, heisst es weiter im Bericht.

Eine Woche später, am 30. März, finden Beamte von OCHA und Mitarbeiter des Roten Halbmonds insgesamt 15 Leichen in einem Massengrab. Darunter acht Mitarbeiter des Roten Halbmonds, fünf weitere Zivilschutzmitarbeiter und ein UN-Mitarbeiter. Ein neunter Mitarbeiter des Roten Halbmonds wird immer noch vermisst. Ausserdem seien die Hände und Füsse der Leichen verbunden gewesen, sagen zwei Zeugen gegenüber dem Guardian.

Gaza 23.März Roter Halbmond
Ein Team des Roten Halbmonds auf der Suche nach den Leichen am 30. März.Bild: Ocha/Roter Halbmond
Gaza Roter Halbmond 23.März
Das zertrümmerte UN-Fahrzeug und das Feuerwehrauto sind auf Fotos zu sehen, die am Tatort aufgenommen wurden.Bild: Ocha/Roter Halbmond

Die Sicht des einzigen Überlebenden

Munther Abed arbeitete am 23. März als Freiwilliger in der Ambulanzstation des britischen Feldlazaretts in al-Mawasi, einem Küstenlager für geflüchtete Palästinenser und Palästinenserinnen. Kurz nach 4 Uhr morgens ging der Anruf von der Notrufzentrale in Hashashin ein, einem Gebiet mit kargen Sanddünen am nördlichen Stadtrand von Rafah. Abed sprang auf den Rücksitz eines Krankenwagens, der sofort losfuhr. Am Steuer sass sein Freund Mostafa Khufaga, neben ihm ein weiterer Sanitäter, Ezzedine Shaath.

Sie hatten den Ort des gemeldeten Luftangriffs um 4.20 Uhr fast erreicht, als sie unter israelischen Beschuss gerieten. Seine beiden Kollegen vom Roten Halbmond, die vorne sassen, wurden sofort getötet. Abed selbst überlebte, indem er sich auf den Boden des Fahrzeugs warf: «Die Tür öffnete sich, und da waren sie – israelische Spezialeinheiten in Militäruniformen, bewaffnet mit Gewehren, grünen Lasern und Nachtsichtgeräten», sagte Abed gegenüber dem Guardian.

Danach zerrten israelische Soldaten Abed aus der Ambulanz und drückten seinen Kopf Richtung Boden. Er wurde geschlagen, mit gefesselten Händen festgehalten und musste sich auf den Boden legen. Von da aus konnte er sehen, wie auch andere Krankenwagen und Feuerwehrautos eintrafen – und alle in einen Kugelhagel gerieten.

«Ich hörte nichts mehr von meinen Kollegen, nur ihre letzten Geräusche. Ich hörte ihren letzten Atemzug.»
Munther Abed, 27-jähriger Sanitäter des Roten Halbmonds

Die Szenen danach schildert Abed wie folgt dem Guardian: «Ich war völlig entkleidet, hatte nur noch meine Unterwäsche an und meine Hände waren hinter meinem Rücken gefesselt.» Danach sei Munther Abded schwer gefoltert worden, unter anderem mit Schlägen, Beleidigungen, Todesdrohungen und Erstickungen. Plötzlich hielt ein Soldat ihm ein Gewehr an den Hals. Ein anderer Soldat hielt ihm einen Dolch an die linke Schulter. Nach einer Weile kam ein Offizier und befahl den Soldaten, aufzuhören, indem er sie als «Verrückte» bezeichnete, die nicht wüssten, wie man kommuniziere, so Abed.

Während dieser Zeit bemerkte Abed ein Zivilschutzfahrzeug und einen weiteren Krankenwagen. Als die Fahrzeuge sich näherten, wurden beide von den israelischen Streitkräften unter heftigen Beschuss genommen, der etwa fünf Minuten lang andauerte. Nachdem die Schüsse aufgehört hatten, sah Abed niemanden die Fahrzeuge verlassen.

Als die Sonne gegen 6 Uhr morgens aufging, kamen Panzer, Quadrocopter, Drohnen, ein grosser israelischer Bulldozer und ein Bagger. Sie begannen, ein riesiges Loch zu graben, warfen die Krankenwagen und das Zivilschutzfahrzeug hinein, begruben sie und deckten das Loch zu, sagte Abed gegenüber dem «Guardian».

Beerdigung Gaza Roter Halbmond
Trauerfeier im Nasser-Krankenhaus in Khan Younis für acht von den israelischen Streitkräften erschossene Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmonds.Bild: shutterstock

Die Leichen von Abeds Kollegen wurden am vergangenen Wochenende aus derselben Grube ausgegraben, zusammen mit den Überresten von sechs weiteren Mitarbeitern des Roten Halbmonds, sechs palästinensische Zivilschutzmitarbeiter und ein Mitarbeiter der UN-Hilfsorganisation UNRWA.

Munther Abed arbeitet seit seinem 18. Lebensjahr als Freiwilliger für den Roten Halbmond und ist seit Beginn des Krieges in den Ambulanzen tätig. Die Arbeit wurde schnell von gefährlich zu tödlich. «Wir finden es nicht mehr überraschend, wenn jemand getötet wird. Jeder kann zur Zielscheibe werden»,sagt Abed.

«Jeder Einsatz, den wir machen, fühlt sich an, als könnte es der Letzte sein.»
Munther Abed, 27-jähriger Sanitäter des Roten Halbmonds

Was sagt Israel?

Auf internationalen Druck hin erklärten die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) am Donnerstag in einer Presseerklärung, sie würden eine formelle Untersuchung der Schiesserei einleiten. Laut der israelischen Armee näherten sich die Ambulanzen «auf verdächtige Weise» ohne Licht oder Notfallsignale. Deshalb hätten die Soldaten geschossen.

Abed meint gegenüber dem «Guardian», dass diese Darstellung «schlichtweg falsch» sei. Die Lichter des Krankenwagens wären deutlich sichtbar gewesen, sowie das Logo des Roten Halbmonds. Auch die Rettungsorganisationen sagen, die Fahrzeuge seien wie immer klar gekennzeichnet gewesen.

Die IDF hätte das Gebiet als Kriegsgebiet bezeichnet, aber Abed sagte, «Hashashin ist ein ziviles Gebiet, in dem das tägliche Leben wie üblich ablief, kein ausgewiesenes Kampfgebiet».

Laut dem IDF haben sie beim Vorfall neun Kämpfer der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad getötet. Abed betonte gegenüber dem «Guardian», dass keine Kämpfer mit den Krankenwagen unterwegs gewesen seien.

Die IDF würde die Nutzung der zivilen Infrastruktur durch die Terrororganisationen im Gazastreifen, wie zum Beispiel die Nutzung von medizinischen Einrichtungen und Krankenwagen für terroristische Zwecke, verurteilen.

Die Reaktionen des IKRK

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erklärte in einer separaten Erklärung, es sei «entsetzt», dass die Sanitäter bei der Ausübung ihrer Arbeit getötet wurden. Die Organisation spricht vom «weltweit tödlichsten Angriff auf Mitarbeiter des Roten Halbmonds seit 2017».

Der Generalsekretär der Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) sagt:

Jagan Chapagain, Secretary-General of the International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) speaks during an interview with The Associated Press, in Beirut, Lebanon, Tuesday, Nov ...
Jagan Chapagain, Generalsekretär der IFRC.Bild: keystone
«Ich bin untröstlich. Diese engagierten Sanitäter haben sich um Verwundete gekümmert. Sie waren Menschenfreunde.»
Jagan Chapagain, Generalsekretär der IFRC

Chapagain fügt hinzu: «Selbst in den komplexesten Konfliktgebieten gibt es Regeln. Diese Regeln des humanitären Völkerrechts könnten nicht klarer sein: Zivilisten müssen geschützt werden, humanitäre Helfer müssen geschützt werden. Die Gesundheitsdienste müssen geschützt werden.»

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100 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Infamie
05.04.2025 12:53registriert Januar 2019
Mittlerweile gibt es ein Video davon, die Darstellung Israels ist schlicht gelogen.
Die Verantwortlichen gehören vor den IGH wegen (wiederholten) Kriegsverbrechen.

Diese Episode ist nur eine traurige weitere von vielen die herausgekommen ist. Fragt sich wie hoch die Dunkelziffer ist..
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TemporaryWorld
05.04.2025 12:48registriert Juni 2017
Die NYT hat ein über 5min langes Video zu diesem Vorfall veröffentlicht. Man sieht ganz klar, dass die Fahrzeuge markiert waren und die Signallichter am waren. Welche „interne“ Untersuchung der israelischen Armee hatte jemals echte Konsequenzen? Die Welt schaut weiterhin tatenlos zu, trotz erdrückender Beweislage dieser Auslöschungskampagne. Kein Terrorangriff kann so eine anhaltende Aggression ohne Gnade rechtfertigen. Die ganze Schuld der Hamas in die Hände zu drücken ist halt einfacher für alle.
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Leap
05.04.2025 13:07registriert August 2023
Israel wird immer mehr zu dem Unrechtsstaat, dem seine Bevölkerung unter großen Verlusten entkommen ist.
Absolut menschenverachtend, was sich Netanyahu und seine Schergen da leisten.
In der Hitze des Gefechtes mag es ‘Kollateralschäden’ geben, aber über den Punkt sind wir lang hinaus. Das ist ein systematischer Feldzug gegen die Zivilbevölkerung und alle die versuchen deren gröbste Not zu lindern.
Neben der Verbrechen selber ist v. a. die offizielle Rückendeckung dafür unentschuldbar!
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