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«Farha»: Der derzeit am meisten diskutierte Film über die Nakba

Der Film «Farha» zeigt die Sicht auf die Nabka durch die Augen eines palästinensischen Mädchens.
Der Film «Farha» zeigt die Sicht auf die Nabka durch die Augen eines palästinensischen Mädchens. bild: farha
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«Farha» – der derzeit am meisten diskutierte Film über die Nakba

Der Film «Farha» erzählt die Geschichte eines palästinensischen Mädchens, das die Nakba hautnah miterlebt. Der Film ist ein Oscar-Anwärter fürs kommende Jahr – zum Entsetzen Israels.
13.12.2022, 20:4918.12.2022, 18:07
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Es ist die Fahne der WM 2022 – die palästinensische Flagge in den panarabischen Farben Weiss, Schwarz, Grün und Rot. Gehisst wird die Flagge vor allem von Fans aus dem arabischen Raum, die ihre Solidarität gegenüber den Palästinensern im Konflikt gegen Israel ausdrücken wollen. Auch Anhänger von Fussballclubs von arabischen Ländern, die diplomatische Beziehungen mit Israel pflegen – wie Marokko – feiern mit der Flagge.

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Fans von Marokko jubeln nach dem Achtelfinalspiel gegen Spanien sowohl mit der marokkanischen als auch mit der palästinensischen Flagge, 6. Dezember 2022.Bild: keystone

Inmitten dieser Präsenz erscheint auf Netflix ein jordanischer Film, der in den frühen Tagen des israelisch-palästinensischen Konflikts im Jahr 1948 spielt.

Der Filmemacherin Darin Sallam zufolge basiert der Film «Farha» auf wahren Begebenheiten eines 14-jährigen Mädchens während der Nakba, als der Staat Israel gegründet wurde und mehr als 700'000 Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Es ist laut Darin Sallam einer der wenigen Filme, welcher die Ursache des Konflikts aus palästinensischer Sicht darstellt. «Farha» erschien 2021, gewann zahlreiche Filmpreise – und wird nun auch als Kandidat für eine Oscar-Nominierung gehandelt.

Doch der Film ist – wie so vieles in diesem jahrelang schwelenden Konflikt – umstritten und sieht sich dem Vorwurf der «Lügen und Verleumdungen» konfrontiert.

Eine Übersicht:

Darum geht es im Film «Farha»

Achtung, dieser Abschnitt erzählt die ganze Geschichte des Films. Wer nicht gespoilert werden will, kann weiter zum Fazit scrollen.

Farha ist ein Mädchen mit vielen Träumen: Sie will trotz traditioneller Geschlechternormen in die Stadt zur Schule gehen, um Lehrerin zu werden – und danach eine Bildungsstätte für Mädchen in ihrem Dorf aufzubauen.

Ihre Familie hat indes einen anderen Plan für die 14-Jährige: Sie soll bald mit dem Nachbarjungen verheiratet werden.

Doch Farha bleibt hartnäckig. Gerade, als ihr Vater einwilligt, sie in eine Schule zu schicken, ertönen Schüsse. Im idyllischen Dorf, das unter britischem Mandat steht, bricht Panik aus.

Farha lebt in einem Steinhaus in einem kleinen palästinensischen Dorf.
Farha lebt in einem Steinhaus in einem kleinen palästinensischen Dorf.bild: farha

Die Bewohner ergreifen die Flucht – nur Farha und ihr Vater bleiben zurück. Um die Tochter in Sicherheit zu bringen, sperrt er sie in einen kleinen Vorratsraum ein. Er verspricht, dass er zu ihr zurückzukehren wird.

Farha, die über Tage auf engstem Raum eingesperrt ist, ernährt sich von rohen Kartoffeln und überlebt dank Regenwasser. Von ihrem Vater fehlt jede Spur.

Dann taucht im ausgestorbenen Dorf eine palästinensische Familie auf. Eine schwangere Frau sucht gemeinsam mit ihrer Familie ein Schlupfloch, um ihr Kind zu gebären. Durch einen kleinen Spalt kann das Mädchen beobachten, wie das Kind entbunden wird.

Farhas Hoffnung auf eine Befreiung ist gross. Verzweifelt schreit sie um Hilfe. Nur kann sie niemand hören.

Als fremdsprachige Soldaten einmarschieren, schwindet die Hoffnung weiter. Durch den kleinen Spalt wird die 14-Jährige Zeugin von Hinrichtungen. Die Opfer: die Familie, die im Dorf Zuflucht suchte.

Durch einen kleinen Spalt wird Farha Zeugin einer Hinrichtung.
Durch einen kleinen Spalt wird Farha Zeugin einer Hinrichtung.bild: farha

Zugleich erscheint die erste Szene, die darauf hinweist, dass es sich um israelische Soldaten handelt. Der einzige Soldat mit Kippa, dem befohlen wurde, das Baby zu töten, konnte sich nicht überwinden, dem Neugeborenen etwas anzutun.

Er liess das Baby unversehrt zurück – und überliess es seinem Schicksal. Als Farha es schafft, sich selbst aus dem Speiseraum zu befreien, findet sie den toten Körper, die Leiche des Babys.

Dann sucht das Mädchen die Ferne – und lässt ihre Kindheit sowie ihre Heimat hinter sich. Was mit dem Mädchen danach passiert, wird schliesslich im Abspann erzählt:

«Farha hat ihren Vater danach nie mehr gesehen. Sein Schicksal bleibt unbekannt. Es wird angenommen, dass er während der Nakba im Jahr 1948 ums Leben kam. Farha, die mit richtigem Namen Radiyyeh heisst, flüchtete nach Syrien, wo sie ihre Geschichte erzählte.»

Fazit und Kritik

«Farha» ist kein Film der grossen Dialoge – und dennoch spricht er für sich. Grösstenteils spielt er in einem kleinen, dunklen Raum und konzentriert sich auf das Schicksal des Mädchens, welches durch das winzige Schlupfloch in ihrem Versteck Zeugin der Ereignisse wird.

Gewisse Handlungen sind sehr brutal. Die Filmemacherin scheut sich nicht davor, die israelischen Soldaten möglichst grausam darzustellen. Das Drama zeigt durchaus auch Menschlichkeit auf Seiten der israelischen Soldaten – etwa, als sich der Soldat weigert, das Baby zu töten.

Doch der Film erzählt die Geschichte aus palästinensischer Optik – was in Israel für Aufruhr sorgt.

Welche Geschehnisse des Films sind wahr?

Das ist nicht bekannt. Der jordanischen Filmemacherin Darin Sallam zufolge basiert die Geschichte auf den Erzählungen einer Freundin ihrer Mutter. Die beiden hätten sich als junge Frauen in Syrien kennengelernt.

«All diese Geschichten, die ich von meinen Grosseltern und befreundeten Familien gehört habe, fügte ich zusammen, um den Charakter von Farha zu erschaffen», sagt Sallam gegenüber der «Time». Die Frau hinter der Geschichte habe sie selbst nie getroffen. Sie habe zwar versucht, sie aufzuspüren, doch dies sei ihr nicht gelungen.

So reagiert Israel auf den Film

In Israel sorgt der Film für Aufruhr. Denn: Im Geschichtsbild Israels wird die Nakba anders geschildert als aus palästinensischer Sicht.

Im Geschichtsbild der Palästinenser wird die Nabka (Katastrophe) als geplante Vertreibung von etwa 700'000 Menschen durch das israelische Militär beschrieben. Eine andere Version der Nabka steht in den israelischen Geschichtsbüchern: Die Palästinenser seien grösstenteils freiwillig aus «Angst vor einem bevorstehenden Krieg» aus ihrer Heimat geflüchtet.

Der «Tag der Nakba», dem die Palästinenser jeweils am 15. Mai gedenken, ist dem israelischen Nationalfeiertag, dem 14. Mai, entgegengestellt. An diesen beiden Tagen kommt es häufig zu gewaltsamen Protesten.

Nun, im Dezember, steht die Nabka wieder im Zentrum der Diskussionen: «Es ist verrückt, dass Netflix beschlossen hat, einen Film zu streamen, dessen einziger Zweck es ist, einen falschen Vorwand zu schaffen und gegen israelische Soldaten aufzuhetzen», sagte der Politiker und ehemalige Aussenminister Avigdor Lieberman in einer Erklärung.

Liebermann ist nicht der Einzige, welcher sich gegen den Film ausspricht. Kulturminister Yechiel Tropper behauptete, «Farha» sei voller «Lügen und Verleumdungen». Und der ultrarechte Itamar Ben-Gvir kritisierte, dass die Soldaten als «blutrünstig» dargestellt werden.

Doch der Film stösst in Israel nicht nur auf Abneigung. Besonders nicht in Jaffa, einer gemischten Altstadt in Tel Aviv, wo etwa 37 Prozent Araber leben. Das arabisch-hebräische Theater in Jaffa, das staatliche Subventionen erhält, wollte den Film erst zeigen, ehe Lieberman mit Konsequenzen drohte.

Zensurversuch

Der Film hat zu Kontroversen geführt – und wurde gemäss den Produzenten auch für eine «Desinformationskampagne» genutzt. Als der Film auf Netflix veröffentlicht wurde, sank die Bewertung auf der Filmbewertungsseite IMDB in wenigen Stunden von 7,2 auf 5,8. Mittlerweile wird der Film mit 8,6 von 10 Punkten bewertet.

Für die Filmemacherin steht fest: «Ich verstehe, dass die Wahrheit wehtut, aber es ist unser Recht, uns zu äussern und das, was mit uns passiert ist, zu teilen.»

In der Schweiz ist «Farha» in der Netflix-Bibliothek auf Englisch verfügbar.

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15 Kommentare
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Mr.CoJones aka Philodog
14.12.2022 06:02registriert September 2015
„ Die Palästinenser seien grösstenteils freiwillig aus «Angst vor einem bevorstehenden Krieg» aus ihrer Heimat geflüchtet.“.
Klar. Also etwa so, wie heute Ukrainer „grösstenteils freiwillig“ aus ihrer Heimat flüchten und Russland alles annektieren darf.
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