Ghatkopar East ist ein dicht besiedelter Vorort im Osten der westindischen Metropole Mumbai. Es ist Freitag, der 9. Mai, und auf einer Zufahrtsstrasse zwischen Wohnhäusern, einem Polizeiposten, kleinen Geschäften und hupenden Rikschas haben sich vor einem Tempel zahlreiche Menschen versammelt. Sie halten Kerzen in den Händen, einige haben Tränen in den Augen. Sie sind zu einer improvisierten Gedenkfeier für Murali Naik gekommen, der hier aufwuchs. Der 25-jährige Soldat ist kurz zuvor bei Gefechten an der Waffenstillstandslinie zwischen Indien und Pakistan getötet worden, im indischen Teil Kaschmirs.
Inmitten der Menge steht Asha Jadhav, der junge Soldat war ein Nachbar. Die 45-Jährige ist Sozialarbeiterin, ihre Tochter, die nur zwei Jahre jünger ist als Naik, hat sie allein grossgezogen. «Ich habe mein Leben lang dafür gearbeitet, dass mein Kind ein besseres Leben hat», sagt Asha Jadhav. Ähnlich erging es Naiks Vater, der auf Baustellen in Mumbai schuftete, seine Mutter arbeitet als Haushilfe. Beide Familien, sagt Jadhav, hätten hart gearbeitet, viele Entbehrungen in Kauf genommen, ihre Kinder sollten es einmal besser haben. Vor drei Jahren schien es, als habe sich all die Arbeit gelohnt. 2022 trat Naik der Armee bei. Jadhavs Tochter fand eine Anstellung in einem internationalen Unternehmen. Umso tiefer sitzt der Schmerz. «Gerade, wo wir durchatmen konnten, hätte ein Krieg beinahe alles zerstört», sagt Jadhav. Sie verstehe, wie Naiks Familie sich jetzt fühlen müsse.
Für Jadhav ist der Konflikt mit Pakistan keine aussenpolitische Frage, sondern eine Bedrohung für die hart erkämpfte Sicherheit. «Indien hat seine Zukunft vor sich. Ein Krieg würde uns zurückwerfen», sagt sie. Erinnerungen an unsichere Zeiten kommen hoch: die Bombenanschläge von 1993 mit mehr als 250 Toten, der Terror vom 26. November 2008 mit mindestens 166 Opfern.
Letzterer wird von indischen Behörden der pakistanischen Terrororganisation Lashkar-e-Taiba zugeschrieben. Ein Ableger der Gruppierungen, der Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst haben soll, wird beschuldigt, den Anschlag vom 22. April im indischen Teil Kaschmirs verübt zu haben, der die gegenseitigen Angriffe der vorvergangenen Woche auslöste. Unabhängig überprüfen lassen sich viele der Behauptungen auf beiden Seiten des Konfliktes nicht. Jetzt ist der Name der Terrorgruppe wieder allgegenwärtig, im TV, in sozialen Medien, in Zeitungen.
«Ich war nie davor gefeit», sagt Jadhav, auch wenn sie nicht direkt verletzt wurde. «Menschen, mit denen ich gesprochen hatte, verschwanden von einem Tag auf den anderen.» Schon der jüngste Terroranschlag in Indien, bei dem 26 Männer starben, riss alte Wunden auf. Doch die Nachricht des Todes von Murali Naik trifft sie ins Mark: Ein junger Mann aus der Nachbarschaft stirbt im Einsatz für sein Land.
Auf den Anschlag in Kaschmir am 22. April reagierte das indische Militär am 7. Mai mit Militärschlägen auf pakistanischem Boden. Der Codename der Operation war «Sindoor», angelehnt an das rote Pulver, das verheiratete Hindufrauen am Haaransatz tragen. Es ist eigentlich ein Symbol für Bindung – und nun für Vergeltung. Laut indischer Regierung galten die Angriffe Lagern von Extremistengruppen wie Lashkar-e-Taiba.
Pakistan warf Indien vor, Moscheen und Wohngebiete getroffen zu haben, und schlug kalkuliert zurück. Dabei sollen indische Kampfflugzeuge abgeschossen und indische Militäranlagen anvisiert worden sein. Beide Seiten meldeten getötete Zivilisten. Auch in Indien sollen religiöse Stätten getroffen worden sein, hinduistische Tempel. Indien reagierte mit Angriffen auf pakistanische Militäreinrichtungen.
Seit fast acht Jahrzehnten schwelt der Konflikt um die Himalayaregion Kaschmir, die seit 1947 geteilt ist. Die jüngste Eskalation zwischen den Atommächten drohte in einen vierten Krieg zu münden. Doch am 10. Mai verkündeten erst US-Präsident Donald Trump, dann die Generalstabschefs beider Länder überraschend einen Waffenstillstand. Erste Verstösse folgten noch in der Nacht, doch insgesamt hält der Frieden bis heute. Am Mittwoch tauschten beide Seiten einen Gefangenen am Grenzposten Attari-Wagah aus. Provokationen gibt es aber weiter auf beiden Seiten.
Asha Jadhav hofft auf eine Lösung, sie sei aber nicht naiv. «Wir reden ständig von Shanti, von Frieden, aber ich fürchte, der Gegner könnte das als Schwäche sehen. Frieden darf nicht auf Kosten unserer Würde und unserer Kinder gehen.» Besonders misstrauisch macht sie, dass Pakistan laut Medienberichten neue internationale Finanzhilfe durch den Internationalen Währungsfonds erhalten soll: «Dieses Geld wird wieder in Terror fliessen», befürchtet sie.
Indiens Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen BJP sagte zu Beginn der Woche, die Operation Sindoor sei der neue Normalzustand im Kampf gegen den Terror. Das Vorgehen sei nur ausgesetzt, die Zukunft hänge vom Verhalten Pakistans ab. Zugleich betonte er, Indien werde keine «nukleare Erpressung» dulden. Anschliessend inspizierte er einen Luftwaffenstützpunkt und lobte den Mut der Soldaten. Seine Rhetorik spiegelt die Lage wider: Zwischen Indien und Pakistan ist die alte Feindschaft, all das Misstrauen, wieder aufgeflammt. Pakistan beteuert, Opfer des Terrorismus zu sein, und beschuldigt Indien, bewaffnete Separatisten in der Unruheregion Belutschistan zu unterstützen, was die Regierung in Delhi zurückweist. Die gegenseitigen Anschuldigungen sind endlos.
Doch auch Modi steht unter Druck. Manche Teile der Bevölkerung hätten einen Krieg mit Pakistan befürwortet. Die Opposition unterstützt Modi zwar im Kampf gegen den Terror, hinterfragt aber zunehmend die Bedingungen, die zum Waffenstillstand geführt haben. Grundsätzlich lehnt Indien jede Einmischung von aussen ab, besonders im Konflikt mit Pakistan.
Unterdessen haben beide Länder gegenseitig Social-Media-Accounts von Medien und Influencern lokal sperren lassen. Zwei verschiedene Narrative dominieren, was in den letzten Wochen geschah. Pakistanische Sänger können schon lange nicht mehr richtig in der Filmindustrie von Mumbai arbeiten. Spätestens seit Ende April mussten die meisten pakistanischen Staatsbürger Indien verlassen.
«Wir hassen die Pakistaner nicht. Schmerz kennt keine Religion und keine Landesgrenze», sagt Ganesh Pujary. «Aber wir können nicht weiter zusehen, wie Menschen in Indien sterben, während Pakistans System weiter Terror produziert», sagt der Mann Ende vierzig. Er trägt ein weisses Hemd, an einem Kiosk am Hauptbahnhof Mumbais verkauft er Wasser, Chips und Spielzeug. Hastig schieben sich Menschen aneinander vorbei, begleitet vom Pfeifen der Züge und Durchsagen aus knackenden Lautsprechern.
Nur wenige Schritte von ihm entfernt, gegenüber von Gleis 9, befindet sich ein Mahnmal. Es erinnert an den Terror, den Mumbai im September 2008 erlebte. «Damals starben meine Freunde, meine Kollegen», sagt Pujary, der hier seit zwei Jahrzehnten arbeitet. In diesen Tagen macht es ihn wütend, wenn er an damals denkt, sagt er. Sollte es zum Krieg kommen, stünde er hinter der Regierung. «Jede Explosion, jeder Schuss reisst die Wunde wieder auf. Wann sagt endlich jemand ‹Genug› – und meint es auch?», fragt der Vater von zwei Kindern. Doch vorerst soll es zu keinen weiteren kriegsähnlichen Handlungen kommen.
Unterdessen rühmt sich Donald Trump fast täglich, durch handelspolitischen Druck einen «schlimmen Atomkrieg» verhindert zu haben. Die Feindseligkeiten zwischen Pakistan und Indien seien beigelegt, nachdem er die beiden Länder aufgefordert hatte, sich auf Handel statt auf Krieg zu konzentrieren, bekräftigte er am Donnerstag. In Indien sorgen seine Worte seit Tagen für Irritationen. Oppositionspolitiker wie Shashi Tharoor kritisierten, die USA setzten Opfer und Täter gleich und ignorierten Pakistans Verbindungen zum grenzüberschreitenden Terrorismus.
Jesuitenpater Dr. Frazer Mascarenhas, eine Instanz in Mumbai, empfand Trumps Äusserungen ebenfalls als Affront. Mascarenhas ist der ehemalige Leiter des renommierten St. Xavier's College in Mumbai. Er erlebte die Anschläge von 2008 unmittelbar. Heute koordiniert er die Entwicklungsarbeit der Jesuiten in Westindien. Immer mehr Menschen erkennen, dass es bei den aktuellen Spannungen nicht nur um Indien und Pakistan gehe, sagt er am Telefon: «Aus Medienberichten wissen wir, dass chinesische Technologie Pakistan geholfen hat, sich gegen den indischen Angriff zu verteidigen», sagt er. «Wir sind Teil eines grösseren geopolitischen Spiels», glaubt der Soziologe. «Das ist nicht einfach ein Krieg zwischen zwei Ländern. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir die Leidtragenden sein.» Er warnt vor den Folgen für die gesamte Region, auch für Umwelt und Landwirtschaft. «In Südasien stehen sich Atommächte gegenüber. In hitzigen Momenten kann alles passieren.»
Der indische Vergeltungsschlag habe ein enormes Risiko mit sich gebracht. «Auch aus Pakistan kam eine Antwort, die Dörfer auf unserer Seite zerstört hat», bedauert er. Es gab Tote und Zerstörung auf beiden Seiten. Ein Krieg könne keine Lösung sein, sagt er, auch wenn der Angriff «tiefe Spuren der Trauer und Wut darüber hinterlassen hat, dass so etwas wie der Terroranschlag auf Touristen überhaupt passieren konnte».
Damals, bei den Anschlägen in Mumbai, seien Studierende von ihm verletzt worden, sagt er. Nun gab es einen weiteren «tiefen Moment des Verlustes und der Trauer». Diesmal sieht er jedoch weniger religiöse Spannungen, wie sie nach früheren Anschlägen immer wieder auftraten. Eine antimuslimische Stimmung kam 2008 auf. Besonders heftig waren die Reaktionen jedoch nach den Bombenanschlägen in Mumbai 1993, die in Unruhen mit 900 Toten (zwei Drittel davon Muslime) mündeten. In Kaschmir protestierten muslimische Ladenbesitzer. Ein Mann, der Ponys zum Reiten anbot, starb, als er versuchte, weibliche Touristen in Sicherheit zu bringen. «Viele Muslime haben den Verletzten geholfen», sagt er. Diese Täter stünden nicht für die Muslime in Indiens Kaschmir, sagt Mascarenhas.
Er erinnert an die Annäherung der letzten Jahre: Der grenzübergreifende Handel zwischen Indien und Pakistan hatte zugenommen, Pakistaner liessen sich in Indien medizinisch behandeln. «Ich habe die Hoffnung auf eine Lösung nicht verloren. Wir sind Brüder und Schwestern, getrennt durch eine Grenze, aber tief verbunden.»
Nicht alle teilen diesen Optimismus. Die oppositionelle Abgeordnete Priyanka Chaturvedi fordert von der Regierung, den «pakistanischen Bluff» öffentlich zu machen, wenn von dessen Seite versucht werde, den Waffenstillstand mit Manövern zu gefährden. «Die Welt soll wissen, dass Pakistan ein Schurkenstaat ist.» Sie kritisiert die USA und den IWF: Jeder Dollar, den Trump Pakistan in Aussicht stelle, werde Terroristen stärken, sagte die Mumbaierin. Der indischen Armee dankt sie, die zunehmend Aufmerksamkeit von der indischen Politik erhält. Denn es ist gewiss: Die Spannungen werden so schnell nicht wieder abklingen.
Selbst der Nationalsport Cricket ist betroffen: Spiele zwischen Indien und Pakistan wurden auf unbestimmte Zeit abgesagt. Wenn in diesen beiden Ländern selbst Cricket keine Brücken bauen kann, wird es grosse Anstrengungen brauchen, um die Nachbarn wieder einander näher zu bringen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.